Ich soll nicht töten
ihn dann in seinem Haus gestellt hatte. Jazz dachte an seine erste Begegnung mit G. William, an das Bild, das sich ihm unauslöschlich eingebrannt hatte: der in den Hobbykeller stürmende Sheriff, mit der unmöglich großen Kanone, die er auf Jazz richtete. Fallen lassen! Alles fallen lassen! Ich schwöre bei Gott, ich schieße!
» Ich bin das nicht«, sagte Jazz noch einmal. » Es ist mein Dad. Es ist Billy.«
17
» Okay, okay. Danke. Ja, vielen Dank. Gleichfalls«, sagte G. William ins Telefon. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und sah Jazz über den Schreibtisch hinweg an. Jazz saß ihm gegenüber, immer noch Helen Myersons Akte im Schoß. Sie hatte ihm x-mal Kaffee serviert, und er hatte nicht einmal ihren Nachnamen gekannt. Er versuchte, sich zu erinnern, wann er ihr zuletzt begegnet war. Vor ein paar Tagen… Weathers war da gewesen, Jazz hatte ihn zum ersten Mal seit Langem wiedergesehen. Deshalb hatten er und Howie sich ihren Kaffee zum Mitnehmen machen lassen. Hatte Jazz ihr Trinkgeld gegeben? Er konnte sich nicht erinnern, und es erschien ihm plötzlich unglaublich wichtig.
G. William beendete sein Telefongespräch. Es hatte nur wenige Minuten gedauert, sich bestätigen zu lassen, was er ohnehin wusste.
» Billy sitzt nach wie vor hübsch hinter Schloss und Riegel«, sagte G. William. » Der Direktor sagt, er ist exakt dort, wo er sein soll. Die ganze Nacht und den ganzen Tag. Genau wie alle Tage in den letzten vier Jahren. Er geht nirgendwohin und ist nie irgendwohin gegangen. Falls dein Dad also nicht einen Weg gefunden hat, sich per Teleportation zu bewegen oder sich in zwei Personen aufzuteilen…«
Jazz blickte auf Myersons Akte hinunter und schüttelte den Kopf. Es ergab alles einen Sinn, es passte alles. Er hatte letzte Nacht die Morde an O’Donnelly und Goodling mit Billys Opfern verglichen und das Muster erkannt. Und es passte auf Billy Dent.
» Billys erstes Opfer«, hatte er G. William kurz zuvor erklärt, » war eine Frau namens Cassie Overton. Ihr Leben, ihr Alter, ihr Aussehen, ihr Tod– alles genau wie bei O’Donnelly. Sein zweites Opfer war Farrah Gordon. Dasselbe Alter, derselbe Job, dieselbe Haarfarbe wie Fiona Goodling. Erdrosselt und nackt in einem Feld liegen gelassen, genau wie Goodling. Und jetzt ein drittes Opfer. Dieselben Initialen wie Helen. Harper McLeod. Kellnerin. Fünfundzwanzig. Braunes Haar. Von da bekam Billy Spaß an der Sache. Injektionen mit Abflussreiniger. Verursacht Muskelkrämpfe, heftige Schmerzen, Herzrhythmusstörungen. Schließlich Herzinfarkt. Damals fing er auch an, sie in bestimmte Posen zu bringen, was ihm den Spitznamen › der Künstler‹ einbrachte.«
» Es ist nicht dein Daddy«, sagte G. William jetzt in freundlichem Ton.
Es sollte wohl aufmunternd klingen, aber Jazz erlaubte sich nicht, es so aufzufassen. Er war sich nicht sicher, was schlimmer war: dass Billy irgendwie entkommen war und beschlossen hatte, seine größten Taten wiederaufleben zu lassen, oder…
» Ein Nachahmungstäter, vielleicht«, sagte G. William mehr zu sich selbst als zu Jazz. » Jemand, der Billy Dent kopiert so gut er kann.«
Und das war genau das Oder, das Jazz Sorgen machte. Ein Nachahmungstäter. Jemand, der Billys Verbrechen gut kannte.
Aber der wahrscheinlichste Nachahmungstäter, so würde man allgemein annehmen, war niemand anderer als Billy Dent jr., auch bekannt als Jasper Francis Dent. Vielleicht irrte sich Howie. Vielleicht war es doch ein guter Name für einen Serienmörder.
Jazz befeuchtete seine Lippen, er brauchte fast eine Minute, um sich zu den Worten durchzuringen, die er nicht sagen wollte. Aber er musste es wissen.
» Sie glauben nicht, dass ich es war, oder?«
» Ich würde es ungern glauben.« Der Sheriff klang, als wollte er jemanden überzeugen. Sich selbst? Oder Jazz?
» Das… beantwortet eigentlich meine Frage nicht.«
G. William setzte sich gerade und trommelte einen schwungvollen kleinen Rhythmus auf dem Schreibtisch, aus heiterem Himmel und dem Moment völlig unangemessen. » Eine Menge Leute wissen alles Mögliche über die Verbrechen deines Vaters. Du stehst auf der Liste meiner Verdächtigen ziemlich weit unten, Jazz.«
Aha. » Aber ich stehe noch drauf.«
G. William schnaubte. » Wenn meine Mama noch am Leben wäre, würde sie auf der Liste stehen, bis ich sie streichen kann. Du weißt, wie das läuft, Jazz.«
Ja, Jazz wusste, wie es lief, aber es ging ihm nicht besser deshalb. Er durfte sich nicht einlullen lassen.
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