Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich soll nicht töten

Ich soll nicht töten

Titel: Ich soll nicht töten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Lyga
Vom Netzwerk:
seine Jeans drang, machte ihn benommen. Es war so viel. Wenn man einem Opfer, das sich wehrt, alle fünf Finger abhakt, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Arterie getroffen. Als ich das erste Mal eine Arterie durchschnitten habe, sagte Billy, konnte ich nicht fassen, wie viel …
    Jazz stellte die Stimme ab. Er fühlte das Blut. Er wollte mehr davon. Er wollte mit der Hand über den Teppich fahren. Er wollte nichts davon. Er wollte fliehen.
    Nein! Du darfst nicht fliehen! Hilf ihr! Du musst ihr helfen!
    Erkannte sie ihn? Oder war sie schon zu weit hinüber? Er konnte es nicht sagen. Ihr Gesicht drückte nackte Panik aus, ein Entsetzen, das jede Faser ihres Seins durchdrang. Falls sie ihn erkannte, was dachte sie dann wohl? Dachte sie: Gott sei Dank, es ist Jasper!
    Oder: O Gott nein – nicht ausgerechnet Jasper!
    Er dachte, dass er etwas zu ihr sagen wollte, aber er traute seiner Stimme nicht. Er traute nichts an sich. Alles, was er in diesem Augenblick wollte, war, sich vorbeugen, die Hände um ihren Hals schließen…
    Himmel! Verdammt noch mal! Zum Teufel mit Billy Dent und zum Teufel mit seinem Sohn. Tränen traten ihm in die Augen. Sie starb. Sie starb vor seinen Augen, und er traute sich nicht, ihr zu helfen, weil er sich nicht darauf verlassen konnte, dass seine Hände die Sache nicht stattdessen zu Ende brachten.
    » Tu es einfach«, schrie er sich selbst an. » Rette sie, du nutzloses…«
    Er kam nicht weiter. Sie röchelte, japste und hörte dann auf zu atmen. Herzstillstand.
    Jazz dachte nicht nach. Er quälte sich nicht. Er neigte ihren Kopf nach hinten und lauschte nach einem Atem. Nichts. Ein Augenblick intensiver Freude überflutete ihn, gefolgt von so heftigem Ekel, dass er sich beinahe kopfüber aus dem Fenster gestürzt hätte.
    Noch nicht. Sie ist noch nicht tot.
    Er hielt ihr die Nase zu, schloss den Mund über ihren und atmete kräftig aus, bis sich ihre Brust hob. Dann noch einmal.
    Sie lag reglos da.
    Er tastete ihre Brust ab, bis er den Schwertfortsatz des Brustbeins fand, und begann mit Druckmassage. Dreißig Mal, dann Pause. Nichts. Er wiederholte die Mund-zu-Mund-Beatmung, und ihre Brust hob und senkte sich, aber als er aufhörte und wieder zur Druckmassage überging, rührte sich nichts mehr.
    » Nicht sterben, Ginny«, sagte er. » Tu ihm den Gefallen nicht. Tu mir das nicht an.« Tränen liefen ihm übers Gesicht. Er wusste nicht, warum. Er wusste nicht, ob er sie verzweifelt retten wollte oder nur wütend auf sich war, weil er es überhaupt versuchte. Er vernahm ein Flüstern in seinem Kopf– es war nicht Billys Stimme, Jazz befürchtete, es war seine eigene–, wenn sie starb, hörte er, würde er zumindest dabei sein. Er würde Zeuge sein.
    Mund-zu-Mund-Beatmung. Und Druckmassage. Mund-zu-Mund-Beatmung. Und Druckmassage. Er hatte das Gefühl, dass es ewig so weiterging. Ihm war, als wäre er um Jahre gealtert, alt geworden, während er sie zu retten versuchte, seine Arme und Schultern brannten, seine Lippen waren rissig und wund. Der Blutstrom aus ihren Fingerstummeln versiegte. War es Gerinnung? Oder weil das Herz nicht mehr schlug und kein Blut irgendwohin pumpte? Er wusste es nicht. Wollte es nicht wissen.
    Schließlich setzte er sich auf die Fersen zurück, wobei er immer noch in ihrem Blut kniete. Sie war tot. Er konnte nichts tun. Sie war vermutlich schon seit Minuten tot.
    Und er fühlte…
    Er wusste es nicht. Er wusste nicht, was er fühlte. Ein Teil von ihm hatte diesen Tag gefürchtet, diesen Augenblick der ersten unmittelbaren Begegnung mit dem Tod. Er hatte befürchtet, es könnte etwas wecken, das in ihm schlief. Aber er hatte diesen Moment auch herbeigesehnt. Er wusste, es würde die Frage auf die eine oder andere Weise beantworten: Gierte er nach Tod wie sein Vater vor ihm?
    Und doch kniete er hier, ein zerstörtes, ausgehauchtes Leben vor sich. Und nichts.
    Er hatte versucht, sie zu retten, oder? Bedeutete das etwas? Aber sie war ja nicht sein Opfer. Vielleicht hatte er es nur versucht, weil er an ihrem Tod nicht beteiligt war. Oder er hatte sich wirklich gewünscht, dass sie überlebte. Er wusste es nicht.
    Er hatte es versucht und war gescheitert. Hatte er sich genügend angestrengt? Hatte ihn ein Teil von ihm zurückgehalten? Hatte er es nur getan, damit er sie berühren konnte, während sie starb? Alles, was er getan hatte, wirkte jetzt so befrachtet, die einzelnen Schritte der Wiederbelebungsmaßnahmen nahmen in seinen Gedanken eine anstößige, schmutzige

Weitere Kostenlose Bücher