Ich, Tochter eines Yakuza (German Edition)
Mal mit ihm gesprochen hatte, denn in der neunten Klasse hatte ich nie den Unterricht besucht. Der kleine, alte Lehrer sagte mit dünner Stimme: »Tendo-san, bitte mach so etwas nicht wieder, fang endlich ein neues Leben an.«
»Äh, ja, danke für die Cola.«
Das war alles. Damit endete das Gespräch mit der einzigen Person, die mich je besucht hat.
Am gleichen Tag gab mir einer der Wachmänner ein Buch, einen Gedichtband mit Haiku 16
› Hinweis
und Tanka 17
› Hinweis
von Mädchen aus Jugendhaftanstalten aus ganz Japan. Die Namen der Dichterinnen waren nur als Initialen angegeben. Ein Mädchen hatte in jeder Kategorie den ersten Preis gewonnen: Gedicht, Haiku und Tanka. Vorher hatte es noch niemand geschafft, in allen drei Kategorien gleichzeitig zu siegen. Das Mädchen war meine Schwester Maki.
Haiku: Klassische japanische Gedichtform in drei Zeilen, die erste Zeile hat fünf Silben, die zweite sieben und die dritte wieder fünf.
Tanka: Klassische japanische Gedichtform in fünf Zeilen nach dem Schema 5-7-5-7-7.
Schöne Blumen voller Stolz in voller Blüte,
schenkt mir Frieden und ein kleines bisschen Licht
wie eine sanfte warme Brise,
die über das klare, blaue Meer und die grüne Wiese weht.
(Gedicht)
Mamas Briefe sind
so warm und voller Liebe
wie ihre Umarmung.
(Haiku)
Weit von zu Hause,
von meinen Eltern getrennt,
mir tut es so leid,
was ich Schlimmes tat.
Aus tiefstem Herzen bedaure ich es.
(Tanka)
Ich musste einfach lachen und konnte mich kaum mehr beruhigen. Die gleiche Maki, die ständig von zu Hause weggelaufen war, die immer wieder deswegen geschlagen worden war, der nie etwas leidgetan hatte, die schrieb jetzt »aus tiefstem Herzen bedaure ich, was ich tat«. Die große Schwester hatte das im Jugendgefängnis geschrieben und die kleine Schwester las es im Jugendarrest. Das war wirklich amüsant. Doch der Wachmann schimpfte vor der Tür: »Tendo, was gibt es da zu lachen?«
Je mehr ich mich aber bemühte, damit aufzuhören, desto komischer fand ich alles und schließlich hatte ich wirklich Bauchweh vor Lachen.
Ein paar Tage später sah ich nach langer Zeit endlich meine Eltern wieder, und zwar im Familiengericht. Im Saal herrschte eine unnatürliche Ruhe, ich konnte förmlich spüren, dass bald ein Urteil über mich gefällt werden würde. Ganz hinten im Saal saßen zwei Personen, die ich noch nie zuvor gesehen hatte, wahrscheinlich waren es Beamte eines Jugendgefängnisses oder eines Erziehungsheims.
Endlich fing der Richter an, meine Adresse vorzulesen, meinen Namen und mein Alter, danach fuhr er mit den Anklagepunkten fort.
»Shoko Tendo. Schnüffeln von Lösungsmitteln, als vermisst gemeldet, Körperverletzung bei drei Personen, Drogenbesitz, Verweigerung der Aussage und kein Anzeichen von Reue erkennbar.«
Meine Eltern hatten mich zu dem Zeitpunkt nicht als vermisst gemeldet, also stimmte das schon einmal nicht. Außerdem hatte ich keine Lösungsmittel bei mir, als ich verhaftet worden war. Als Beweis für Lösungsmittelkonsum hätten sie mich auf frischer Tat erwischen müssen oder ich hätte gestehen müssen. Und das rezeptfreie Schmerzmittel, das sie bei mir gefunden hatten, war die Grundlage für den Vorwurf »Drogenbesitz«.
»Shoko Tendo, möchtest du etwas dazu sagen?«
Ich war überzeugt davon, dass es absolut sinnlos war, alles zu leugnen, daher schüttelte ich nur den Kopf.
Also rückte der Richter seine Brille gerade und wandte sich an meine Eltern: »Möchten Sie etwas dazu sagen?«
»Sie ist wie ein Ball ohne Luft.«
So etwas hatte der Richter bisher vermutlich noch nie von einem Vater gehört, daher wiederholte er fragend: »Ein Ball ohne Luft?«
»Ganz recht. Ganz gleich, wie viel Sorgen sich die Eltern auch machen, sie ist wie ein Ball ohne Luft, der nie gerade fliegt und auch nie zurückkommt. Sie muss für das, was sie getan hat, die Verantwortung übernehmen. Sonst wird sie nie ein besserer Mensch werden.«
Mein Vater hatte so streng gesprochen, wie ich es von ihm erwartet hatte. Aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, dass meine Mutter leise weinte.
»Shoko Tendo, nimm dir die Worte deines Vaters zu Herzen. Du kommst in ein Erziehungsheim.«
Als hätten sie nur darauf gewartet, kamen die zwei aus dem hinteren Bereich des Saals sofort zu mir. »Komm mit«, forderte mich einer auf und legte mir die Hand auf den Rücken.
»Shoko-chan«, schluchzte meine Mutter und griff nach meiner Hand.
»Papa, Mama, es tut mir wirklich leid, dass ich euch
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