Ich Töte
Trauermarsch. Die Stimme, die aus den Boxen drang, hatten sie alle schon einmal gehört, aufgenommen auf einem Band und eingebrannt in ihr Gedächtnis.
»Hallo, Jean-Loup.«
Frank schnellte aus seinem Sessel hoch, als habe sein Körper einen elektrischen Schlag bekommen. Er schnippte mit den Fingern zu Morelli hinüber. Im Nu verließ den Inspektor seine Gelassenheit. Er sprang auf und nahm das Mikrofon seines Walkie-Talkies vom Gürtel.
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»Leute, es geht los. Wir haben Kontakt. Haltet euch bereit.«
»Hallo, wer spricht da?«, fragte Jean-Loup.
In der verstellten Stimme am Telefon schwang ein leises Lächeln mit.
»Du weißt genau, wer ich bin, Jean-Loup. Ich bin einer und keiner.«
»Du bist derjenige, der schon einmal hier angerufen hat?«
Morelli verließ eilig den Raum. Wenig später kam er mit Doktor Cluny zurück, dem Psychopathologen der Polizei, der wie alle anderen im Korridor gewartet hatte. Der Mann nahm sich einen Stuhl und setzte sich neben Frank. Laurent schaltete das interne Mikrofon ein, das es ihm erlaubte, direkten Kontakt zu Jean-Loups Kopfhörern aufzunehmen, ohne auf Sendung zu gehen.
»Bringen Sie ihn zum Reden, so lange wie möglich«, verlangte Cluny, während er seine Krawatte lockerte und den Hemdkragen aufknöpfte.
»Ja, mein Freund. Ich habe schon einmal angerufen, und ich werde wieder anrufen. Die Hunde, sind sie bei dir?«
Die elektronische Stimme trug den Widerschein vom Höllenfeuer und marmorne Kälte in sich. Die Luft im Raum schien immer dünner zu werden, als söge die Klimaanlage die frische Luft heraus, anstatt sie hineinzublasen.
»Welche Hunde?«
Pause. Dann wieder die Stimme.
»Die Jagd auf mich machen. Sind sie bei dir?«
Jean-Loup hob den Kopf und sah sie ratlos an. Cluny näherte sich der internen Sprechanlage.
»Bejahen Sie. Sagen Sie ihm alles, was er hören möchte, aber bringen Sie ihn zum Reden …«
Jean-Loup nahm das Gespräch wieder auf. Seine Stimme klang bleiern.
»Warum fragst du mich danach? Du wusstest, dass sie hier sein würden.«
»Um die geht es mir nicht. Sie sind nichts. Du bist es, um den es mir geht.«
»Warum ich? Warum rufst du mich an?«
Wieder Pause.
»Ich habe es dir gesagt. Weil du bist wie ich, eine Stimme ohne Gesicht. Aber du hast Glück, von uns beiden bist du derjenige, der am Morgen aufstehen und raus an die Sonne gehen kann.«
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»Und du kannst das nicht?«
»Nein.«
In dieser einen Silbe lag die absolute Verneinung, eine Ablehnung, die jede Erwiderung ausschloss, die totale Zurückweisung.
»Warum?«, fragte Jean-Loup.
Die Stimme veränderte sich. Sie wurde unsicher, weich, wie vom Wind herübergeweht.
»Weil jemand es so entschieden hat. Und ich kann kaum etwas dagegen tun …«
Schweigen.
Cluny drehte sich zu Frank um und flüsterte ihm überrascht zu:
»Er weint …«
Nach einer langen Pause hob der Mann wieder zu sprechen an.
»Ich kann kaum etwas tun. Es gibt nur eine einzige Möglichkeit, das Böse zu bekämpfen, und das ist, es mit seinen eigenen Waffen zu schlagen.«
»Aber warum Böses tun, wenn doch die Welt um dich herum voller Menschen ist, die dir helfen könnten?«
Eine neuerliche Pause. Ein Schweigen, als überlege er, dann von neuem die Stimme, diesmal eine wütende Verurteilung.
»Ich habe um Hilfe gebeten, aber das Einzige, was ich bekommen habe, ist das, was mich umgebracht hat. Sag das den Hunden. Sag es allen. Es wird kein Erbarmen geben, weil es kein Erbarmen gibt, es wird keinen Frieden geben, weil es keinen Frieden gibt. Nur einen Knochen für deine Hunde …«
»Was willst du damit sagen?«
Eine längere Pause. Der Mann am Telefon hatte die Kontrolle über seine Gefühle zurückgewonnen. Die Stimme kam wie der Wind aus dem Nichts geweht.
»Du liebst die Musik, nicht wahr, Jean-Loup?«
»Sicher. Und du?«
»Musik verrät einen nicht, Musik ist das Ziel der Reise. Musik ist die Reise selbst.«
Unvermittelt, genau wie beim ersten Mal, quoll langsam und verführerisch die Stimme einer elektrischen Gitarre aus dem Telefon.
Ein paar Töne nur, losgelöst, strahlend, das Spiel eines Musikers im Dialog mit seinem Instrument.
Frank erkannte die Melodie von Samba Pa Ti , gezähmt durch die Finger und die Fantasie desjenigen, der dort spielte. Nur die Gitarre, in einer fast schmerzhaft verlängerten Einführung, die von irgendei106
nem Publikum mit frenetischem Beifall begrüßt wurde.
Ebenso plötzlich, wie sie gekommen war, verschwand die Musik wieder.
»Das war der
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