Ich Töte
sagen wollte. Wahrscheinlich sah Bikjalo das genauso, denn er hatte begonnen, ihn mit fast beruflichem Interesse zu mustern. Der Psychopathologe fuhr fort.
»Das Tatmotiv ist uns vollkommen unbekannt. Wir wissen nicht, was diesen Mann dazu treibt, zu morden und danach das zu tun, was 111
er getan hat. Es ist ein Ritual, das für ihn einen klaren Sinn ergibt, auch wenn wir ihn nicht kennen. Sein Wahnsinn allein kann uns nicht auf die richtige Spur bringen, weil er nicht offen zu Tage tritt.
Dieser Mann lebt mitten unter uns, wie ein ganz normaler Mensch, tut Dinge, die normale Menschen tun. Er nimmt einen Aperitif, kauft die Zeitung, geht ins Restaurant, hört Musik. Vor allem hört er Musik. Das ist der Grund, weshalb er hier anruft. In einer Sendung, in der Musik gespielt wird, die er gerne hört, und die Menschen in Schwierigkeiten Hilfe anbietet, fragt er nach Hilfe, die er nicht will.«
»Wieso ›Hilfe, die er nicht will‹?«, fragte Frank.
»Sein Nein auf das Hilfsangebot war endgültig. Er hat bereits entschieden, dass ihm niemand mehr helfen kann, was auch immer sein Problem sein mag. Das Trauma, das er mit sich herumschleppt, muss ihn auf grausame Weise geprägt haben, bis schließlich die verborgene Wut explodiert ist, die Subjekte wie er lange vor ihrem ersten Ausbruch in sich tragen. Er hasst die Welt und ist wahrscheinlich der Überzeugung, dass sie ihm etwas schuldig geblieben ist. Er muss schreckliche Enttäuschungen und Erniedrigungen erlitten haben, zumindest aus seiner Sicht. Die Musik war vermutlich eine der wenigen Inseln der Glückseligkeit in seinem Leben. In der Tat liegt der einzige Hinweis, der uns etwas über ihn verrät, in der Musik. In diesem Stück verbirgt sich eine Botschaft. Er hat uns einen weiteren Hinweis gegeben, der zu demjenigen aus dem ersten Gespräch passt.
Es ist eine Herausforderung, zugleich jedoch auch eine unbewusste Bitte. In Wirklichkeit bittet er uns, ihn zu stoppen, wenn wir können, da er sich aus eigener Kraft nicht mehr stoppen kann.«
Im Raum hingen Schatten, Muff und Spinnweben. Ein Ort, der nie vom Sonnenlicht erhellt wurde. Das Reich der Mäuse.
»Barbara, können wir den Abschnitt der Aufnahme noch einmal hören, wo die Musik kommt?«
»Sicher.«
Die junge Frau drückte eine Taste. Sofort füllte sich der Raum mit den Tönen der Gitarre, die gleichsam verstört eine Interpretation von Samba Pa Ti anschlug, die wesentlich unbestimmter, tastender war als gewöhnlich. Der Beifall des Publikums setzte bereits mit den ersten Tönen ein, wie bei einem Livemitschnitt, wenn ein Sänger einen seiner größten Hits anstimmt und die Zuhörer ihn sofort wiedererkennen.
Als die Musik endete, ließ Frank seinen Blick über die Anwesenden schweifen.
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»Ich möchte daran erinnern, dass das Musikstück im ersten Telefonat ein Indiz darauf enthielt, wer seine Opfer sein würden. Die Musik zu einem Film, der die Geschichte eines Rennfahrers und seiner Freundin erzählt. Ein Mann und eine Frau. Wie Jochen Welder und Arijane Parker. Hat irgendjemand irgendeine Vorstellung davon, was dieses Stück bedeuten könnte?«
Am anderen Ende des Tisches räusperte sich Jacques, der Tontechniker, als fiele es ihm schwer, in dieser Runde das Wort zu ergreifen.
»Also, ich würde sagen, den Titel kennen wir alle …«
»Nichts als bekannt voraussetzen«, unterbrach ihn Hulot höflich.
»Tu so, als verstünde niemand in diesem Raum irgendetwas von Musik, auch wenn es dir blödsinnig vorkommt. Manchmal ergeben sich Hinweise aus einer Richtung, aus der man sie am wenigsten erwartet.«
Jacques errötete leicht. Er hob die rechte Hand, als wolle er um Verzeihung bitten.
»Ich wollte sagen, dass das Stück sehr bekannt ist. Es handelt sich um Samba Pa Ti von Carlos Santana. Es muss auf jeden Fall eine Liveaufnahme sein, denn man hört das Publikum. Und es muss ein ziemlich großes Publikum sein, wie in einem Stadion, sonst wäre eine solche Reaktion nicht möglich, auch wenn manche Livemitschnitte im Studio noch nachträglich mit gesondert aufgenommenem Applaus aufgemotzt werden.«
Laurent zündete sich eine Zigarette an. Der Rauch kräuselte sich in der Luft, tanzte zum offenen Fenster hinüber und verschwand in der Nacht. Es blieb der leichte Schwefelduft des Streichholzes.
»Ist das alles?«
Jacques wurde erneut rot, schwieg aber, da er nicht wusste, was er antworten sollte. Hulot kam ihm zu Hilfe. Er sah ihn lächelnd an.
»Gut. Danke, junger Mann, das ist schon
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