Ich träume deutsch
mich nähte. Annem hatte noch hellere Haut als sonst und ihre Augen waren traurig.
„Mine, riech mal, hmm, es riecht nach Annem“, sagte ich, und dann durfte sie auch mal riechen. „Es riecht gar nicht nach Anne“, sagte Mine und rannte in den Hof. Ich glaube, sie war sehr traurig und wütend.
Nach einer Weile saßen wir alle draußen. Auf dem offenen Feuer köchelten Hagebutten in unserem großen Topf. Hagebuttenmarmelade aß ich am liebsten. Wir hatten mit Babaanne zusammen zwei Säcke Hagebutten im Wald gesammelt. „Mädchen, ihr seid sehr fleißig gewesen“, lobte uns Babaanne, und zur Belohnung durften wir Kleider aus unserem Deutschlandkoffer anziehen.
„Babaanne, wie gefällt dir mein Kleid?“ Ablam tanzte mit ihrem kurzen Rock hin und her.
„Das ist viel zu kurz, Kızım, zieh dir sofort etwas drüber“, schrie Babaanne. Aber Mine hob ihren Rock noch etwas höher, um Babaanne zu ärgern. Plötzlich klopfte es am Tor.
„Kim O? Wer da?“, rief Babaanne.
„Nazim Öğretmen“, ertönte eine tiefe Stimme. Es war der |107| Dorflehrer Nazim. Ein großer Mann mit kurzen, dunklen Haaren kam durch unser Tor und küsste Babaannes Hand. Ablam und ich begrüßten Nazim Öğretmen und küssten auch seine Hand. Dann setzten wir uns neben Babaanne und waren sehr neugierig auf unseren Gast. Der Mann sah nett und klug aus. Er trug einen grauen Anzug und hatte eine schwarze Tasche unter dem Arm.
„Teyzem, deine Enkeltochter solltest du in die Schule schicken, sie ist schon ein großes Mädchen. Du willst doch nicht, dass sie später unwissend und hilflos wird, oder?“
Babaanne rührte die Kizilcikmarmelade weiter und ihre Augenbrauen zogen sich zu einem einzigen breiten Strich zusammen.
„Ich bin auch unwissend! Aber sieh her, ich bin auch nicht daran gestorben, Allah sei Dank!“, antwortete Babaanne und klopfte mit ihrem großen Kochlöffel auf den Topf.
„Die Entscheidung liegt bei dir, Teyze, überlege es dir gut. Die Verantwortung für diese Kinder liegt in deiner Hand. Nur wer Tinte leckt, wird seinem Volk dienen“, sagte der Lehrer. Er half Babaanne den Marmeladentopf beiseitezustellen. Babaanne kochte ihm einen Mokka. Nazim Öğretmen erzählte Babaanne, dass unwissende Menschen immer Unheil anrichten würden, und dass Atatürk nur Menschen geliebt habe, die wissend waren.
Nachdem Nazim Öğretmen seinen Mokka getrunken hatte, küsste er noch einmal die Hand von Babaanne und sagte zu Mine, dass er in der Schule auf sie warten würde. Dann ging er fort. Babaanne hatte sich gar nicht über den Besuch gefreut. Sie rührte die Marmelade weiter, und ihre Augenbrauen blieben ganz lange ein Strich.
Bis zum Abendessen sprach Babaanne kein Wort mit uns.
|108| „Babaanne, jetzt sind wir seit elf Monaten hier, und Baba wollte, dass du mich gleich in die Schule schickst. Wir sind doch Kinder von Atatürk, und deswegen müssen wir Tinte lecken“, sagte Mine leise.
Babaanne gab keine Antwort. Mine zog nur die Schultern hoch und ging schlafen.
Babaanne war tagelang sehr nachdenklich, und dann sagte sie: „Hadi, Kizlar, wir gehen heute einkaufen! Mine braucht eine Schuluniform, Papier und Tinte. Ihr sollt nicht unwissend bleiben.“
Ablam bekam eine schwarze Uniform mit einem weißen Kragen und weißen Strümpfen. Mir kaufte Babaanne gezuckerte Leblebi und einen Bleistift. Ich war ja noch zu klein für die Schule. Ablam durfte ihre Uniform gleich tragen, und sie war ganz stolz darauf! Sie bedankte sich bei Babaanne und fiel ihr um den Hals.
„Kiz dur, Mädchen warte, du erwürgst mich ja noch“, sagte sie und gab Mine einen Kuss auf die Stirn.
Am nächsten Morgen standen wir alle ganz früh auf, um Ablam in die Schule zu bringen. Sie war sehr aufgeregt und summte die Nationalhymne.
„Maşallah, Maşallah“, sagte Babaanne immer wieder und stolzierte mit uns in die Schule.
Der Schulhof war voller Kinder und alle sahen in ihren Uniformen gleich aus. Babaanne nahm uns an der Hand, und wir gingen gleich zu Nazim Öğretmen.
„Jetzt hast du die Verantwortung für meine Enkeltochter, behüte sie wie dein rechtes Auge“, sagte Babaanne.
Der Lehrer nickte nur mit dem Kopf und küsste wieder die Hand von Babaanne. Ablam ging zu den anderen Kindern, und alle sangen die Nationalhymne. Babaanne wischte |109| sich die Tränen aus den Augen, und wir gingen ohne meine Abla nach Hause.
Wir wohnten ganz in der Nähe der Schule, und Ablam durfte allein nach Hause laufen. Babaanne schickte trotzdem
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