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Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Titel: Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelle Groom
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auf dem anderen, wie im Rumpf eines Schiffes. Die Wand am Ende führt in den Bereich für die Frauen. Es hat Tage gedauert, bis ein Platz für mich frei wurde – ich bin nicht mehr betrunken. Es ist jetzt Anfang Februar. In dem Monat, seit ich hier bin, hat es kein Bett für mich in der Akut-Abteilung gegeben und auch keinen Platz bei den Frauen, die schon trocken sind. Ich schlafe in dem einen Ausnüchterungssaal für Frauen, zwischen betrunkenen Frauen, die wie Mumien sind. Ich bekomme Panik, mit so vielen Menschen zusammen – so viele, eine Stadt voller zerstörter Menschen. Wir alle, zusammengepfercht in diesem einen Betonblock. Ich muss die aufsteigende Angst unterdrücken. Es bleibt nur das eine, man muss es aushalten.
    Das Ausnüchterungshaus in der Gore Street liegt näher am Stadtzentrum als das Haus am Broadway. Das Behandlungszentrum der Marine war im Vergleich dazu ein Palast. Die Gore Street nimmt jeden auf. Es ist total verraucht. Alle rauchen. Am Morgen teilt die Krankenschwester Saft aus – Fingerfarbenlila und Schwarz in einem Plastikbecher. Dazu eine Tablette, die, so sagt sie, mich umbringen kann, wenn ich gleichzeitig trinke. Ich erzähle nicht, dass ich es letztes Jahr versucht habe. Dass ich drei Tage, nachdem ich Antabuse abgesetzt hatte, getrunken habe und das Mittel noch in meinem Körper war. Dass ich getrunken habe, bis die Unterschicht meiner Haut brannte wie das weiche Birnenfleisch in Zucker, wenn man Marmelade kocht.
    Wir stellen uns an. Die Krankenschwester misst unseren Blutdruck. Die Therapie findet in einem gelben Raum statt. Wir schneiden Bilder aus Zeitschriften aus und lesen die Texte auf der Rückseite. Einer der Sozialarbeiter hat Haar wie kalter Sand, verklumpt. An meinem letzten Tag finde ich auf dem Bett einen Zettel von ihm mit seiner Telefonnummer. Er möchte, dass ich ihn anrufe, er will mich, obwohl er weiß, was passiert ist. Ein kerniger älterer Mann, der es besser wissen müsste. Eine Sozialarbeiterin hat langes, lockiges Haar, das ihr bis zur Taille geht – sie sitzt so weit von mir weg, hinter dem Schreibtisch, dass sie wie ein Mädchen auf einem Gemälde ist. Ich bemerke alle Farben – Rot, das eher wie Gelb ist. Gold vom Holz der Bäume. Linden. Wir sprechen abwechselnd. Meine Vokale sind zu nah aneinander, aber ich stehe aufrecht. Die Sozialarbeiterin und ich sprechen über praktische Dinge. Ich glaube, ich habe gutes Betragen versprochen.
    Wenn es keine Therapiestunde gibt, werden wir mit dem Bus zu einem Flohmarkt gefahren. Ich stehe in einer Telefonzelle und atme, von meinem Atem beschlägt das kalte Glas. Ich werfe Münzen ein, aber nie ist jemand zu Hause. Ich bin mir ziemlich sicher, dass niemand mit mir sprechen will. Einmal erreiche ich Bill, aber im Hintergrund höre ich Susan, die ihn spöttisch fragt: »Ist das deine Freundin?« Hinter der Zelle ist der Flohmarkt ein Zirkus – diamantenhell, ein Durcheinander, das ich nicht ertrage. Obwohl man hinter Glas steht, ist man in der Telefonzelle für sich, ein durchsichtiger Sarg.
    Einmal beim Abendessen gibt es Fleisch und Soße. Ich esse kein Fleisch. Wir sitzen bei den Männern, und die neue Frau, die ich kennengelernt habe, ist nicht mehr da. Am Abend zuvor hat die Frau mir ihre Handflächen hochgehalten, schwarzer Faden, stramm durch ihre Handgelenke gezogen. Sie sagte, die Frau in der Notaufnahme sei wütend auf sie gewesen. »Da draußen sind Menschen, die sind richtig krank«, habe die Krankenschwester gesagt und heftig an der Nadel gezogen. Wir saßen so nah, dass unsere Knie sich fast berührten, und ich sah auf ihre mir hingestreckten Handgelenke, aber ich berührte nicht ihren Arm. Im Hintergrund lief der Fernseher. In einem anderen Land wird ein verletzter weiblicher Engel auf Ästen getragen, die zu einer Leiter gebunden sind. Ihre Augen sind verbunden. Mit gesenktem Kopf kann sie nicht sehen, dass das Meer und der Berg und der Himmel alle von der gleichen Farbe sind. Dass sie ganz nah sind. Die Neue sprach so, als hätte sie etwas geleistet, als wäre die Geschichte etwas, das sie zusammenflickte. Vielleicht war das auch so.
    Nach dem Essen bringen die AA -Ehrenamtlichen echten Kaffee. Wir sitzen auf Klappstühlen im Kreis und halten Styroporbecher in den Händen. Ein Mann setzt sich neben mich und sieht sich meine Kleider an – gelbes T-Shirt, enge gelbe Hose mit Reißverschlüssen an den Seiten. Er sagt: »Du siehst aus wie eine Banane.« Mir gefällt der Kreis, als wäre in der

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