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Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Titel: Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelle Groom
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werden. Diesen Moment kenne ich sehr gut, es ist der, über den sie bei den Treffen sprechen, wenn ich jeden Widerstand gegen den ersten Drink verliere. Bisher durchlaufe ich unbeteiligt die Stadien des Trockenseins. Ich rufe nie bei jemandem von den Treffen an. Ich nehme unregelmäßig an den Treffen teil. Ich gehe wieder regelmäßig in Bars.
    Ich habe nicht viel Zeit. Ich fürchte, der Neffe wird eintreffen, bevor ich zu meinem Auto laufen und wegfahren kann. Fürchte, dass jemand mich am Wegfahren hindern könnte. Draußen ist es noch hell – zu früh zum Ausgehen. Ich habe einen Plan, ich fahre zu der Big-C-Spirituosenhandlung. Kaufe zwei halbe Liter, vertrautes Klappern. Aus Angst vor der Polizei halte ich die Flaschen tief, während ich auf dem Highway fahre. Es brennt in Abschnitten, wie ein Aufzug. Um sieben Uhr bin ich betrunken. Fahre zur Eisenbahnbar. Es ist einfach ein großer Raum. Hier hatte ich 1982 , vor fast zwei Jahren, kurze Zeit als Cocktail-Kellnerin gearbeitet.
    Drei Bars. Schwarzes Vinyl mit Brandflecken in den Nischen. Auf den Tischen jeweils ein rundes Glas, rot, geschliffen, jedes mit einer Kerze, ein gelbes Wohnzimmer. Friedlich. Die Band spielt ab zehn. Als ich hier arbeitete, hatte ich Mühe, im Dunkeln das Geld zu zählen, musste es den ganzen Abend mit den Fingern fühlen.
    Noch hat Bill nicht viel zu tun – er ist an der Tür. Küsst mich auf die Wange. »Berechne ihr nichts«, sagt er dem Rausschmeißer. »Sie trinkt nicht«, sagt er stolz. Anfangs ist es so dunkel, als wären mir die Augen verbunden. Ich sitze an der Bar mit dem Rücken zur Wand. Zuerst ist Bill glücklich, freundlich. Klimpern, Klirren. Die Bar füllt sich, ich möchte etwas trinken, aber Bill bedient mich nicht. Ich denke nicht daran, dass ich gerade ein halbes Jahr ohne Alkohol vergeben habe, und bestimmt denke ich nicht daran, zu einem Treffen zu gehen. Ich denke, dass ich nicht einsam sein möchte. Ich warte darauf, dass es lustig wird, dass Bill mich liebt.
    Er lacht ängstlich, als ich bei dem anderen Barkeeper einen Drink bestelle, aber sein Gesicht hat einen besorgten Ausdruck. Ich halte mir das Glas an die Lippen, ich hebe das Kinn. Trinke vor seinen Augen. Er will mir das Glas wegnehmen. Ich kichere. Leute rufen ihn – er hat jetzt viel zu tun und kann mich nicht hindern. Ich habe gewonnen, er wirft mir nervöse Blicke zu. Ich bin sehr betrunken und schreibe auf feuchte Cocktailservietten, als Susan hereinkommt. Sie setzt sich, blond, kompakt, sie flirtet mit Bill.
    Das Licht in der leeren Damentoilette ist grell wie in einem Krankenhaus. Keine Tür vor der Kabine. Ich zerschmettere mein Glas auf dem Metallspülkasten. Winzige rote Perlen auf meiner rechten Hand. Zurück in der Bar, flirte ich mit dem Typen links von mir, ich verstecke das Glas. Ein paar Nächte war es her, da sah ich im Traum das Datum meines Todes auf einen Stein graviert: 6 . August 1944 – im Alter von 63  Jahren. Fragte mich, wer ich wohl gewesen sein mochte. Der Glasboden ist heil, ich schiebe den Rand in mein Handgelenk. Acht kleine Knochen, in zwei Reihen angeordnet. Der Knochen neben dem Daumen ist ein Boot, der neben dem Boot ist ein Mond. Ein Armband, das meine Finger beweglich macht. Ich blicke nicht nach unten. Das Wort für Haut war das Wort für Gras, das eine Ebene bedeckte. Sachte lege ich das zerbrochene Glas auf die Theke, Blut ist daran. Bill ist komisch, so vorhersehbar, die Augen aufgerissen, der Mund offen. Aus dem offenen Raum strömen sie.
    Ich wurde ohnmächtig. Ein paar Monate später sagt Bill: »Du weißt nicht einmal, was dann passiert ist.«
    »Erzähl du es mir.« Er wendet sich ab. Wir sitzen in der anderen Eisenbahnbar – er hat seine alte Stelle wieder. Ich trinke nicht, werde nicht mehr anfangen zu trinken. Aber es ist Wahnsinn, dass ich hier bin, so nah neben ihm stehe, und die Flaschen blinken. Er zieht doch nicht weg. Er bleibt hier. Er sagt, ich hätte in meinem Auto Sex mit einem Mann gehabt, einem Unbekannten. Hätte mir von dem Rausschmeißer ein Kondom geben lassen. Was ist das für ein Mann, der mit einer Frau schläft, die Blut an den Händen hat?
    Ich weiß nicht, warum ich mein Auto auf dem Parkplatz stehen lasse, zusammen mit meinem Schlüssel, meinem Mantel, meiner Strumpfhose, meinem Slip, meiner Handtasche. Als ich aus der Ohnmacht erwache, bin ich auf dem Highway. Schwarze Stiefel bis zu den Knöcheln, Beine bloß bis zu den Oberschenkeln, bis zum Rock. Keinerlei Zeitgefühl. Im

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