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Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Titel: Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelle Groom
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Mitte etwas, dem wir alle unsere Aufmerksamkeit schenkten, etwas, das dort lebte.
    Um elf geht das Licht aus. Wir sind still wie Steine. Sie haben einen alten Mann hereingelassen. Ich habe gehört, wie die Krankenschwester seinen Arm nahm und er ausrastete, bloß weil sie seinen Puls messen wollte. Zwei Wachmänner, alte Junkies in Weiß, zerrten ihn vor die Stahltüren. Er brüllte betrunken, ein Tier draußen. Warf sich wie ein Sack Zement gegen die Wand unseres Zimmers. Ich ziehe mir eine zusätzliche Decke über den Kopf, atme den Geruch von Haut in dem Gewebe ein. Worin hat mein Sohn Trost gefunden? Das ist eine einfache Frage – die vergisst man nicht –, etwas, das er gehalten hat, in der Hand hatte. Sag, was du in seinen Armen gesehen hast. Als er geboren wurde, habe ich ihm blaue Decken gegeben, den Himmel.
    Die anderen Frauen in der Ausnüchterung sind alle älter. Sie sind betrunken und rempeln die Möbel an. Sie sprechen nicht. Im Bett rühren sie sich nicht, sind abgestürzt. Keine von ihnen bleibt länger als zwei Tage. Die erste junge Frau, die nach einer Woche kommt, Shanna, erscheint mir wie eine Freundin aus der Kindheit. Wir sind gleichaltrig. Sie hat die schönste Handschrift. Bei den Treffen ist es, als säßen wir auf einer weißen Rampe, hoch oben in der Zimmerecke, und blickten auf ein gelbes Licht hinunter. Sie ist verheiratet, und wenn sie in flachem Tonfall von ihrem Mann erzählt, was sie mit ihm angestellt hat, damit er ihr Alkohol besorgt, bekomme ich Angst. Die Berechnung. Als könnte nichts sie hindern. Aber bin ich etwa anders? Sie hat keine Kinder. Immer abgetrieben, sagt sie. Ein Mädchen, mit dem ich im Naturkostladen gearbeitet habe, hatte zwei Abtreibungen hinter sich. Sie war so alt wie ich, langes blondes Haar, gertenschlanker Körper. Wir haben zusammen in der Saftbar gearbeitet und Sandwiches gemacht. Sie erzählte mir, sie habe sich einmal abends betrunken, sei auf die Straße gerannt und habe geschrien: »Ich habe meine Babys umgebracht.« Sie erzählte es mir, als wäre es ein Traum – sie war überrascht davon. Als wäre in ihr eine Fremde, eine Mutter, die sich freigerissen hatte. Danny hatte mich zu einer Abtreibung gedrängt. Hat Druck gemacht. Ich habe mich geweigert. Dann hat er versucht, mir meinen Sohn wegzunehmen, und ich konnte nichts anderes denken als: Dass du es wagst. Dass du es wagst.
    In der Entgiftungssitzung am Freitagabend bin ich wieder allein. Shanna hat gesagt: »Ich schaffe das nicht.« Wir haben beide geweint. Sie war frühzeitig aus dem Treffen gegangen, und als ich in unser Zimmer kam, war mein blauer Samsonite-Koffer unter dem Bett hervorgezogen und geöffnet worden. Sie hatte ein paar meiner Hemden mitgenommen. Nachdem sie weg waren, wusste ich nicht mehr, was für Sachen ich eigentlich hatte – Baumwollhemden mit langen Ärmeln –, ich glaube, es waren warme Sachen. Es ist immer noch Winter, vielleicht wusste sie, dass sie warme Sachen brauchen würde. In dem leeren Zimmer, der Koffer offen auf dem weißen Laken, sah es aus, als wäre ich diejenige, die gehen wollte. Sie hat mir ihren Vierten Schritt auf gelbem, blau liniertem Papier dagelassen. Ihre Besonderen Verluste und Anfälle von Verrücktem Verhalten, ihre Fehlgeschlagenen Versuche der Beherrschung, ihre Obsessionen, ihre Weiterentwicklung.
    Ich fand es unerträglich, dass der Psychiater sowohl für die körperliche als auch für die psychische Untersuchung zuständig war. Ich sprach erst ganz am Ende mit ihm. Ich gab ihm den Spitznamen Igor – groß, ungeschlacht, kantiges Gesicht. Ein Filmmonster. Er sagt: »Du glaubst, die Leute wollen dich ausnützen.« Ich glaube, dass er das will, aber das sage ich nicht. »Jeder, der dir ein Stück entgegenkommt, wird zerschmettert«, sagt er. Ich frage ihn, wie ich damit aufhören kann. Er sagt: »Selbstachtung.« Als könnte ich das allein für mich bewerkstelligen, ohne Erklärungen, ohne Anweisungen.
    In der Gruppenarbeit schneiden wir Wörter und Bilder aus Zeitschriften aus. Der Sozialarbeiter sagt: »Sucht Worte und Bilder aus, die eure Gefühle beschreiben, Sehnsüchte, von denen ihr nie jemandem erzählt habt.« Ein Wort, das ich ausschneide, ist »Wiedergeburt«. Der Sozialarbeiter sieht sich meine Wörter und Bilder an und dreht die Seite mit »Wiedergeburt« um. Auf der Rückseite steht »liebevoll«. Der Sozialarbeiter sagt, ich hätte das Wort unbewusst ausgewählt. Kann ich etwa durch Papier gucken? Kann mein Unterbewusstes

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