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Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Titel: Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelle Groom
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das? Ich glaube, er sucht einfach nach etwas Positivem, nach etwas, das mir Hoffnung gibt. Ich frage mich, wer meinem Sohn geholfen hat, als er gestorben ist. Wer hat ihn aufgehoben? Konnte er laufen? Kann mir das jemand sagen: Konnte er laufen? Ich kann niemanden fragen. Aber ich habe es nachgesehen. Zwischen einem Jahr und achtzehn Monaten fangen Babys an zu laufen. Mit anderthalb Jahren können die meisten laufen, manche versuchen schon zu rennen. Manche können auch rückwärts gehen. Manchmal, wenn man sie bei der Hand nimmt, können sie die Treppe raufgehen, aber man darf nicht loslassen. Man darf nicht loslassen. Man darf nicht loslassen. Tommy war vierzehn Monate alt, als er starb. Vielleicht konnte er von einem Zimmer ins andere gehen. Er konnte nach der ausgestreckten Hand fassen. Zwischen zwölf und fünfzehn Monaten kann ein Kind Mama und Dada sagen und mindestens noch zwei Wörter. Zwei Wörter. Welche zwei Wörter hat er gesagt? Jahre später erzählte eine Mutter mir, dass ihr Sohn sich mit Handzeichen verständigt habe, wenn sie ihn aus dem Kindergarten holte – im Kindergarten lernten die Kinder Zeichensprache, um das auszudrücken, wofür sie keine Wörter hatten. Ich denke wirklich über Wiedergeburt nach, ich möchte wirklich wissen, ob mein Sohn hier irgendwo ist. Manchmal suche ich nach ihm. Er ist am 27 . Mai 1982 gestorben. Wie lange dauert es, bis man wiedergeboren wird? Könnte er irgendeins der Kinder sein, die ein Jahr alt sind? Evelyn, die Mystikerin, die mit mir in dem Laden im Orlando-Einkaufszentrum arbeitet, hat meine Erfahrung Großes Buch, Kleines Buch verstanden, die ich als Kind hatte. Evelyn hat auch gesagt, wenn ein Mensch sehr jung stirbt, als Baby, dann ist er aus einem bestimmten Grund auf die Welt gekommen. Um etwas zu bewirken. Ich möchte Tommys Leben nicht auf einen Grund oder ein Ereignis reduzieren, sein Leben soll kein Auslöser sein. Aber vielleicht verstehe ich nicht richtig, was Evelyn meint. Sie sagt, sein Grund, geboren zu werden, das, was er bewirkt hat, unterscheidet sich von dem, was ihr oder mein Grund ist, weil es nicht in einem langen Erwachsenenleben enthalten war.
    Einmal geht nachts, während wir schlafen, der Feueralarm los. Es klingt wie das Ende der Welt. Meine Ohren tun mir am nächsten Tag noch weh. Sie schicken uns raus, in den Regen, aber ein Feuer finden sie nicht.
    Als meine Eltern zur Familientherapie kommen, erzählt meine Mom, in der Zeit, als wir auf Hawaii gelebt haben und mein Dad immer für ein halbes Jahr auf See war, sei ich auf das Bett am höchsten Punkt des Hauses geklettert und hätte eine halbe Stunde lang oder so geschrien. Immer wieder. Ich sei nach oben geklettert und hätte geschrien. »Es war so laut, dass ich Angst hatte, die Nachbarn würden denken, ich ermorde sie mit einer Axt.« Meine Mom sagt: »Ich habe nie aus ihr herausbekommen, warum sie so geschrien hat.« Meine Mom sagt: »Ich konnte sie nicht zum Aufhören bringen. Erst wenn sie bereit war.« Der Sozialarbeiter, der sich später mit mir verabreden will, sagte irgendwie nachdenklich: »Sie hat eine große Wut in sich.« Ich erinnere mich, dass ich nach oben geklettert bin, aber das Schreien war wie Wasser, es hatte sein eigenes Ende. Außerdem war damals Krieg. Krieg, verdammt. Mir scheint, das war eine angemessene Reaktion für ein Kind. Ich konnte nicht zulassen, dass jemand, den ich lieb hatte, verschwand – dass ich das nicht mitbestimmen konnte. Dass ich körperlich von meinem Vater getrennt war. Schon jetzt war ich durch ein Meer von meiner Großmutter mütterlicherseits getrennt, Nana, die bis dahin meine Hauptquelle von Zärtlichkeit gewesen war. Nana, die sich kaum zurückhalten konnte, wenn ich auf sie zuging, ihre zitternden Arme ausgestreckt, dass es wie Glocken klang. Aber was war mit meinem Sohn? Warum haben wir in diesen Sitzungen nie über ihn gesprochen? Ich erinnere mich, wie ich meiner Mom erzählte, dass ich schwanger war. Im fünften Monat. Sie war stumm, die Zeitschrift auf ihrem Schoß. Sie erzählte es meinem Vater, als er von der Arbeit nach Hause kam. Er klopfte an die Tür meines Zimmers, und als ich sie angsterfüllt aufmachte, sagte er: »Ich möchte dir nur sagen, dass du trotzdem meine Prinzessin bist.« Und küsste mich auf die Stirn. Am nächsten Morgen sagte er: »Eine Frage habe ich noch, Kelle. Wie sollen wir das Baby nennen?« Meine Eltern, die böse wurden, wenn ich die Klimaanlage zu hoch stellte oder die Waschmaschine

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