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Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Titel: Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelle Groom
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benutzte oder spät nach Hause kam, meine Eltern waren gefasst.
    Doch dann quälte mich der Gedanke, dass wir für immer bei ihnen wohnen müssten. Dass ich das Baby in eine Krippe geben müsste, während ich studierte und meine Eltern zur Arbeit gingen. Und abends, wenn ich arbeitete, müssten meine Eltern auf das Baby aufpassen. Wie würden wir je aus dieser Situation herausfinden? Was, wenn mich das unzufrieden machte? Wenn ich es an dem Baby ausließ? Nach dem, was mir beim Babysitten passiert war, befürchtete ich, dass man mir mit einem Baby nicht trauen konnte, dass ich die Neigung zu Gewalt in mir trug, in meinen Genen. Ich fing an, über Adoption nachzudenken. Dann, ich war im siebten Monat, es war in der Weihnachtszeit, kam ich von der Arbeit in der Cocktailbar nach Hause, und meine Mom sagte, Julia und Mark hätten angerufen. »Sie möchten, dass du sie anrufst, ganz gleich, wie spät es ist.« Ich wusste, dass sie seit zwölf Jahren versuchten, ein Kind zu bekommen. Sie hatten mich noch nie gebeten, sie anzurufen.
    Später, 2008 , bin ich im Theater des Künstlerzentrums, wo ich zu der Zeit arbeite. Es liegt in der Nähe der Küste, eine Stunde östlich von Orlando. Victoria, eine Autorin, eine Mutter, die zwei Wochen lang dort ist und Teenager, die schreiben wollen, unterrichtet, zeigt auf jemanden bei der Tür und fragt: »Ist das dein Sohn?« Ich drehe mich um, gucke, wer da ist.
    Es ist der Sohn meiner Kollegin Nancy – ein großer junger Mann mit dunklem Haar und Sommersprossen. Er lächelt, lacht. Er ist am College und studiert Fotografie, und am Abend wird er Fotos von den jungen Autoren machen, die aus ihrer Arbeit vorlesen. Einen Moment lang bin ich wie vor den Kopf geschlagen. Victoria hat zwei Söhne. Ich spüre, dass sie eine gute Mutter ist. Sie weiß, wie eine Mutter aussieht. Dass sie denkt, er könnte mein Sohn sein, dass sie glaubt, ich wäre imstande, ihn aufzuziehen, führt mich zu der Frage, wer ich eigentlich bin. Ich stelle mir vor, dass ich aussehe wie ein gealterter Teenager. Ungezähmt. Sie schenkt mir eine andere Welt, in der ich an derselben Stelle stehe, in meinem eigenen Körper, aber imstande bin, für einen anderen Menschen zu sorgen und ihn lebendig zu halten. Es ist mit das Schönste, was je einer zu mir gesagt hat. Ich drehe mich zu Victoria um und schüttele den Kopf: Nein.
    Eines Morgens kommt Sheila in die Gore Street. Sie ist mindestens fünfzig. Verkatert. Im Waschraum sitzt sie auf einem Stuhl vor der Reihe Waschbecken. Taucht einen Waschlappen in lauwarmes Wasser, hebt ihn langsam heraus. Wäscht sich unter den Armen, zwischen den Beinen. Es muss schwer sein, so sauber zu werden. Sie will nicht duschen. Sie nimmt eine Sprühdose und sprüht sich die Haare zu dicken, klebrigen Locken fest. Ein Auge ist verletzt, es guckt immer nach rechts. Ihr Nachthemd ist dünn, durchscheinend. Schleift über die schmutzigen Kacheln.
    Zum Frühstück gibt es Orangensaft mit abgelaufenem Haltbarkeitsdatum und Rührei aus Eipulver. Ich sitze neben Sheila. Sie erzählt, als sie das letzte Mal hier war, habe sie eine Frau in ihrem Alter kennengelernt, die noch trinken wollte. »Sie hatte Geld dabei. Wir haben uns ein Taxi zu ihr nach Hause genommen. Richtig schönes Haus. Massenweise Stoff. Fernseher. Essen.« Sie haben drei Tage lang getrunken, dann fing die Frau an, mit Flaschen zu werfen, und setzte Sheila vor die Tür. Ein paar Tage später, so erzählte Sheila weiter, sei sie wieder in die Gore Street gekommen, allein, aber schwach. Wo sie in der Zeit dazwischen war, weiß ich nicht. Sie kam an einer Bar vorbei, an dem Müllcontainer dahinter, und sah etwas auf dem Boden. Ein paar Jungen umkreisten es. Sie sagte, es sei die Frau mit dem Geld gewesen, sie habe sich nicht bewegt. Sheila sagt, normalerweise wäre sie hingegangen, aber die Frau sah tot aus. Sie hatte Angst, die Jungen würden ihr etwas tun, deshalb ging sie weiter und kam hierher. Warum haben wir niemandem davon berichtet? Warum haben wir die Leute im Zentrum nicht gebeten, die Polizei zu rufen? Irgendwie schien das mit der Frau auf dem Boden schon vor langer Zeit geschehen zu sein.
    Als ich anfing, zu den Treffen zu gehen, 1982 , fast zwei Jahre zuvor, war da ein Mann, den ich mochte. Ich erinnere mich an nichts, was er gesagt hat, sondern nur daran, wie er nach den Treffen links neben mir stand. Er hatte Jesus-Haare, lang und dunkel. Heroin und Alkohol, hatte ich gehört. Unsere Begrüßungen waren wortlos –

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