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Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Titel: Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelle Groom
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stoße. »Wenn aber nicht Sie es gewesen wären?«, wird die Frau mich fragen. Und einige Zeit später, nachdem ich das erzählt habe, bin ich in einem schicken Lebensmittelladen, der um eine Abteilung für alkoholische Getränke, einen Videoverleih und eine Reinigungsannahme erweitert worden ist. An der Theke der Reinigungsannahme wird ein Mädchen im gelben Ladenlicht stehen, und ich werde denken: »Wenn aber sie es wäre?« Im nächsten Moment gibt die harte Mauer nach.
    Wenn ich mir vorstelle, dass er sie vergewaltigt, weiß ich, dass sie nicht mit dem raspelnden Atem aufhören kann, wie Sandpapier in ihr drinnen. Sie weiß nicht mehr, wie sie die Arme heben soll. Sie denkt nicht an die Glasscherbe, daran, sie als Waffe zu benutzen. Dass sie ihn schneiden könnte, damit er aufhört. Es ist, als wären ihre Arme der Himmel. Sie sieht ihn durch ein Fenster, und dann ist er weg. Ich will zu dem Mädchen gehen und sagen, es tut mir leid. Ich muss mich beherrschen, selbst jetzt, um nicht durch den Laden, den es nicht mehr gibt, zu ihr zu gehen und ihr Gesicht zu berühren. Ihr Gesicht habe ich nie gesehen, nur ihr Profil, die Theke ist weit von der Tür entfernt, von den Kassen, wo ich stehe. Sie wartet auf ihren Abholzettel. Oder auf ihre gereinigten Sachen. Aber wenn ich zu ihr ginge, würde sie sich umdrehen, aufblicken.
    Das Licht des Montagmorgens ist schattig. Rock und Angorapullover, auf links gedreht, in einem Haufen auf dem Fußboden. Ich schlucke trocken. Hinter der nächsten Tür tropft der Wasserhahn am Waschbecken im Badezimmer. Ich weiß, dass ich mich nicht rühren darf. Sobald ich mich bewege, schaltet sich die Erinnerung ein, und ich wache auf. Ich bleibe still liegen, krümme mich langsam, in Abschnitten, unter der Decke zusammen. Ich könnte die Stickerei sein. Augen geschlossen. Schlafen.
    Gegen Mittag wird die Sonne heller. Meine Kontaktlinsen sind ausgetrocknete, sandige Kügelchen. Ich möchte wieder in den Schlaf versinken, aber es ist zu spät. Zuerst fangen meine Hände an zu zittern. Das Zittern hört nicht auf. Meine Haut ist wie von tausend Nadeln gestochen. Meine geritzten Handgelenke brennen. Die Glasscherbe von dem Saftglas, das ich zerbrochen habe, liegt auf Bills Nachttisch. Bei Tageslicht sieht sie verrückt aus. Für den Papierkorb, nicht für die Haut.
    Es dauert fast eine Stunde, bis ich am Telefon sieben Zahlen hintereinander gedrückt habe. Ich muss zwischendurch aufhören, mich hinlegen. Ich rufe meine Sozialarbeiterin im Therapiezentrum der Marine an. Ich kann nicht mehr trinken. Ich kann nicht nicht trinken. Ich bin auf der Linie dazwischen. »Hilf mir.«
    »Bist du zu einer Entgiftung bereit?«, fragt sie. Ich weiß nicht, was das ist, aber es ist mir auch gleichgültig.
    »Ja.«
    »Hier kann ich dich nicht wieder aufnehmen, auch wenn ich das wollte. Aber ich kann dich an eine andere Klinik verweisen. Kannst du sofort zur Entgiftung kommen?«
    »Ich weiß nicht, wo mein Auto ist. Ich kann meine Mom anrufen. Sie bringt mich dann.« Kein anderes Gefühl ist so stark wie die Hoffnung. Ich will einfach nur leben. Ich kann nicht mehr als zwei Atemzüge vorausdenken. Aber leben will ich – es ist, als hätten meine Knochen und mein Blut die Sache in die Hand genommen, als hätte mein Körper sie in die Hand genommen.
    Meine Mutter unterrichtet gerade ihre erste Klasse, aber sie kommt sofort aus der Schule. Sie findet mein Auto, meine Sachen, mich. Bringt mich zu meiner Sozialarbeiterin auf dem Marinestützpunkt, die dafür sorgt, dass ich zu der Entgiftung in der Gore Street komme. Meine Mom fragt: »Und wenn sie es nicht schafft?« Sie sieht klein aus. Nicht mal böse.
    Da legt meine Sozialarbeiterin mir den Arm um die Schultern, mir, der Königin des Rückfalls, und sagt: »Aber du schaffst es doch, oder?« Sie lächelt mir zu. Ich spüre ihren warmen Arm, höre das erstaunliche Vertrauen in ihrer Stimme. Ich nicke.

Gore Street
    Maschendraht, Metalltüren wie in einem U-Boot – etwas, das dem Wasserdruck in großer Tiefe standhalten würde. Es gibt eine Art Foyer, einen Lungerplatz für die Männer. Ein Flur ganz rechts führt zu Duschen, Toiletten, Schließfächern, die niemand benutzt. Geschenkte Bekleidung quillt aus einer hohen Tür – die offen steht für diejenigen, die nichts zum Anziehen haben. Neben dem Flur ein Schreibtisch für das Personal. Dem Schreibtisch gegenüber ein großer Schlafsaal für die Männer. Die Betten scheinen bis zur Decke gestapelt, ein Bett

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