Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)
Denny’s, das vierundzwanzig Stunden geöffnet hat, ist es hell, und ich will das öffentliche Telefon benutzen, um Bill anzurufen. Aber ich habe kein Kleingeld. Ich stehe im Licht und blicke auf das Telefon. Gehe raus. Wieder zum Highway.
Wie soll ich Bill finden?
Es ist kalt. Selbst in Florida ist es im Januar kalt.
So verschwinden junge Frauen. Sie gehen, bis sie das Dunkel sind. Ein Lieferwagen hält. Jemand verschwindet.
Ein Auto hält. Das Fenster wird runtergekurbelt. Der Fahrer hat dunkles Haar. »Sie sehen aus, als könnten Sie Hilfe gebrauchen«, sagt er. Er ist älter als ich, aber nicht alt. Vielleicht dreißig. Blass. Sein Auto ist klein, die niedrigen Sitze eng zusammen. Ich steige ein. Er fragt nicht, was passiert ist. Er fragt nicht, was mit mir ist. »Wohin möchten Sie?«, fragt er. Ich sage es ihm.
»Biegen Sie links ein, bei dem Apartmentblock … Hier.«
Bills Apartment. Die Zeit zwischen gestern Abend, als ich ihn in der Eisenbahnbar gesehen habe, und jetzt ist ein schwarzer Polaroidfilm. Ich steige nicht aus. Vor uns Backsteine, einer auf dem anderen. Die Menschen, die hier wohnen, sind eingemauert. Der Fahrer wendet mir sein Gesicht zu. Er hat es nicht eilig.
»Sind Sie sicher, dass dies die richtige Adresse ist?« Es ist so ruhig in seinem Auto. »Ich kann Sie woandershin fahren.« Aber in Gedanken rase ich voraus, will Bill sehen, bin ängstlich wegen dem, was ich getan habe. Ich überlege, den Mann zu bitten, mich nach Hause zu fahren, das Haus meiner Eltern ist weniger als zehn Minuten entfernt. Aber sie wären böse auf mich – ich hatte mich nicht an die Zeit gehalten. Wie sollte ich erklären, was mit meinem Auto war, meinen Sachen, meiner Handtasche, wie das Blut erklären?
Der dunkelhaarige Mann im Auto hat alle Zeit der Welt. Ich hätte ihm erzählen können, dass vor drei Jahren mein Sohn an den Beinen blaue Flecken hatte, obwohl er nicht hingefallen war. Dass manchmal die Vergangenheit unmittelbar über der Gegenwart erscheint. Dass ich ein dünnes Kleid hatte, aus dünnem Band, wie eine Flagge, innen mit Rot und Blau, und dass ich darin geschlafen habe, nachdem Tommy gestorben war. Dass ich ihn beinahe nicht weggegeben hätte. Und vielleicht wäre er, wenn ich ihn nicht weggegeben hätte, nicht gestorben. Stattdessen sage ich: »Ja«, und mache die Autotür auf.
Bills Haustür ist nicht verschlossen. Im Wohnzimmer liegen Männer ausgestreckt, sie schlafen da. Ich remple sie auf dem Weg zu Bills Tür versehentlich an, stoße die Tür auf. Bill ist nicht erfreut, mich zu sehen. Er fährt sich mit der Hand durchs Haar. Ich weiß, dass sein Haar weich ist. Er meidet es, mich anzusehen. »Ich ertrage es nicht, mit dir in einem Zimmer zu sein«, sagt er. Ich bin etwas überrascht, dass er nicht über das Ritzen, das Blut besorgt ist, aber es kümmert ihn nicht.
»Ich kann jetzt nicht nach Hause gehen«, sage ich.
»Wenn du bleibst, gehe ich«, sagt er, beugt sich in seinen Schrank und nimmt eine Sporttasche heraus. Er geht. Ich kann es nicht glauben. Sein Zimmer ohne ihn ist nichts. Selbst meine Rippen sind erschüttert, dass er weggeht, sie heben und senken sich.
Ich wate durch die am Boden liegenden Körper und gehe in die Küche. Ich zerschmettere ein Saftglas im Spülbecken, worauf einer von Bills fest schlafenden Wohnungsgenossen aufschreckt. Er erhebt sich von der Couch wie in einem Cartoon. Ich muss kichern, weil er solche Angst hat. Kichernd gehe ich ins Schlafzimmer, in Bills Zimmer, und schließe die Tür. Nehme eine Glasscherbe mit ins Bett. Glaskante auf meinem Handgelenk. Aber ich bin müde. Ich habe nicht die Kraft zu sterben.
Ich kann auch morgen früh sterben, wenn ich es dann noch will.
Die Schlafzimmertür wird aufgestoßen. Der nunmehr hellwache Wohnungsgenosse kommt herein. Das Bett steht in der Mitte des Zimmers. Er berührt mich. »Ich möchte nur, dass du dich gut fühlst«, sagt er.
»Nein«, sagte ich. »Nein. Nein.« Doch einen Moment lang zögere ich: Ist es möglich? Kann er machen, dass ich mich gut fühle? Kann ich mich gut fühlen? Aber dann ist es schon zu spät. Anscheinend bin ich nicht mehr Herr über meinen Körper.
Jahre später erzähle ich einer Frau in einem fensterlosen Zimmer einen Teil dieser Geschichte. Sie ist spirituelle Therapeutin, sie freundet sich mit mir an und berät mich umsonst in ihrem Büro. Vom Erzählen wird mir schlecht, das Gefühl, dass ich Müll bin – der Körper zerdrückt, und eine harte Mauer, an die ich
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