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Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Titel: Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelle Groom
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retten. Und hätte Gott sich den Namen meines Sohnes auf die Handfläche eingeschrieben, hätte er ihn dann nicht vor Schmerzen bewahrt?
    Es ist 2004 , das Jahr, in dem alle vier Orkane nach Florida kommen. Ich wohne ganz oben in einem Block, der in den Vierzigerjahren erbaut worden ist. Das Dach ist unmittelbar über meiner Zimmerdecke. Winde fegen mit achtzig Meilen durch die Stadt und entwurzeln den riesigen, uralten Baum vor meinem Esszimmer. So oft habe ich am Tisch gesessen und die Vögel hoch oben gesehen, an meinem Ellbogen, dass wir tatsächlich in derselben Welt zu wohnen schienen. Sie hatten keine Angst vor mir, auf der anderen Seite der Scheibe, wo sie ihre Musik machten. Der Baum fällt seitlich am Haus entlang, nicht auf das Gebäude, auf mich. Verwandelt meine Wohnung nicht in einen Raum voller fliegender Glasscherben. Ich habe Angst, dass der Wind das Dach abhebt und das Delirium von Dorothy aus
The Wizard of Oz,
ein Flug durch die Luft, mein Tod sein wird. Ich verstecke mich im Flur, zwischen den Zimmern, bei den Türen zum Badezimmer, Schlafzimmer, Wohnzimmer. Hocke mich auf den Fußboden. In diesem Fall scheint es dumm, dass ich allein bin und draußen die dunkle Maschine, die mich im nächsten Moment in die Baumwipfel schleudern wird.
    Meine Operation muss verlegt werden, als der zweite Orkan naht. Ich fahre ans Meer, der Sand am Strand größtenteils vom ersten Orkan weggewaschen. Die Küste leer, der Winter im Anzug. Ich gehe meilenweit, ohne eine Menschenseele zu sehen. Der Strand ist übersät mit Bootsplanken und rostigen Nägeln, Flaschen, Palmenstämmen, und als die Flut kommt, bringt sie noch mehr Unrat. Bei Flut kann man hier nicht gehen, Bretter reiten auf den heranrollenden Wellen auf mich zu. Ich klettere auf die Veranda eines Hauses, das den Geiern überlassen zu sein scheint. Und das Wasser steigt auf die Veranda, ohne dass ich nass werde, bis es mir vorkommt, als wäre ich selbst in einem Boot, Wasser auf drei Seiten, auf der vierten die Dünen. Und ich fühle mich in Sicherheit, hier auf dem Meer. Mein Herz spürt keine Panik mehr, stellt sich nicht mehr ein Messer vor, das kalt meine heile Haut schneidet. Stellt sich auch keine Chemotherapie vor, was für ein Brennen das ist. Mein Haar am Boden, wie das eines Rekruten. Eine weiche Leiche im Grab, unter der Erde. Stattdessen scheint das Meer mich an das zu erinnern, was bleibt. Es trägt mich, als wäre es ein früher Verwandter aus den ersten Tagen.
    Vor der Operation schlägt mein Herz so schnell – wie bei einem dieser kleinen Hunde, die einen eingebauten Motor zu haben scheinen, wie bei einem Kolibri, etwas schrecklich Schnelles. Deshalb machen mir beide Krankenschwestern Komplimente wegen meiner Haare, spielen mit den Locken. Ich spüre die Zärtlichkeit ihrer Hände, ihr Wissen um meine Angst. Und diesmal tue ich nicht so, als wollte ich lieber glattes Haar haben. »Ich mag es auch«, sage ich. Ich möchte es behalten. Jetzt mag ich auch alles andere – die so geheimnisvoll benannten Organe in mir drin. Alle die, die eine Krankenschwester auf einem Formular aufgeführt hat, auf dem ich mit meiner Unterschrift einwilligen musste, dass sie jedes oder auch alle herausnehmen dürfen, wenn ich Krebs habe. Sodass ich leer aufwachen könnte, ohne zu wissen, was ich vorher in mir hatte. Ausgeleert wie ein Koffer. Auch wenn ich defekt bin, ich möchte sie alle behalten, alle meine defekten Organe.
    Während der Operation ruft der Chirurg meinen Dad vom Telefon im OP aus an. Ich liege noch aufgeschnitten auf dem Operationstisch. Meine Eltern sind mit meiner besten Freundin im Wartesaal. Er sagt: »Es ist kein Krebs.« Vom Wartesaal ruft mein Dad meine Tante und meinen Onkel, Julia und Mark, auf seinem Mobiltelefon an. »Es ist kein Krebs«, sagt er. Julia weint.
    Als ich im Aufwachraum langsam zu mir komme, ist eine Krankenschwester unmittelbar neben meinem Ohr. Ich höre ihr Flüstern, bevor ich sie sehen kann: »Sie haben keinen Krebs.« Als wollte sie, dass ich beim Aufwachen als Erstes ihre Worte höre, damit ich ohne Angst aufwache.
    Es stellt sich heraus, dass Teufelsfische, obwohl verwandt mit Haien, nicht gefährlich sind. Zahnlos und akrobatisch können sie durch die Luft fliegen, aber sie können einem nichts tun. Die Masse war Endometriosis, als wäre ein Knäuel von Zwirn um meine inneren Organe gewunden, um meinen armen rechten Eierstock, bis er die Größe einer Apfelsine hatte. Der Arzt hat alles rausgeholt, den

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