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Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Titel: Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelle Groom
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selbst nicht. Andere Faktoren als genetische müssen bei der Entstehung von Leukämie eine Rolle spielen. Diese anderen Faktoren kommen wahrscheinlich aus der Umwelt. Alle Umweltfaktoren haben eins gemeinsam: Sie können die Struktur der DNA verändern, und aus DNA sind die Gene gemacht. Die DNA enthält die Regeln, nach denen die Zellen im Körper leben. Umweltfaktoren können die DNA verändern, und wahrscheinlich können sie dann auch die Regeln verändern.«
    Andere Faktoren: Radioaktivität von einer Atombombe, chemische Substanzen, Viren.
    In dem Buch heißt es: »Niemand hat deine Leukämie verursacht, niemand konnte sie verhindern.« Ich weiß nicht, was das Buch damit sagen will.
    Auf einer anderen Seite zieht sich der Junge den Hosenschlitz auf.

Von der Aorta
    Mein Arzt legt jeweils zwei Finger in die Vertiefung neben seinen Hüftknochen, die Fingerkuppen ruhen auf den Falten seiner hellen Sommerhose. »Da sind Ihre Eierstöcke«, sagt er. Ich stelle mir meine Eierstöcke da vor, wo seine Zeigefinger sind. Stelle mir vor, wie sie vor seinen Fingern zurückweichen, vor dem Hosenstoff. Ich hatte das lediglich für eine Vorsichtsmaßnahme gehalten, der Weg zum Krebsarzt, an dem Schild zur Chemotherapie vorbei, das nach rechts wies, glücklich, dass meine beste Freundin sich die Zeit genommen hat, mich zu begleiten. »Es besteht die fünfzigprozentige Chance, dass Sie Eierstockkrebs haben«, sagt er zu mir. Er hat ein Ultraschallbild, meine Blutwerte. Etwas rutscht mir von der Kehle in den Magen. »Sie müssen sofort operiert werden«, sagt er, »sobald ein Termin frei ist.«
    Als wir das Behandlungszimmer verlassen und den Flur entlanggehen, ist der Arzt in einem kleinen Büro in einer Nische und spricht mit einer Krankenschwester. Er spricht mit ihr über etwas anderes, als wir vorbeigehen. »Wenn sie der Operation nicht zustimmt, stirbt sie. Sagen Sie ihr, dass sie sterben wird.« Lange nach diesem Tag wird mir bewusst, dass er nicht die anderen Dinge erwähnt hat, die mit meinen Symptomen möglich sind: Eierstockkrebs im fortgeschrittenen Stadium und vergrößerter Lymphknoten an der Aorta. Das mit der Aorta ist ein ganz neuer Schrecken, denn wenn da Krebs ist, werde ich bis hierhin aufgeschnitten, bis zum Herzen.
    Meine Freundin muss mit dem Arzt gesprochen haben – wir waren zusammen in seinem Sprechzimmer. Ich erinnere mich, wie unser Lächeln aufhörte, das Lächeln noch auf dem Gesicht, aber erstarrt vor Angst. So schockiert, dass ich vergaß, mit dem Lächeln aufzuhören. Wie damals, als die Teufelsfische in einer Invasion schwarzer Flügel im Meer auf mich zukamen und mein Dad sagte: »Lauf«, aber ich versuchte, cool zu bleiben, langsam zu machen. Für wen? Für die Teufelsfische? Die Leute am Strand? »Lauf weg!«, schrie mein Dad.
    Meine Freundin ist die praktisch Veranlagte. Ich erinnere mich an nichts von dem, was sie sagte, nachdem der Arzt das von der »fünfzigprozentigen Chance« erwähnt hatte. Später zeigte sie mir ein Gedicht, das sie über den Arztbesuch geschrieben hatte, und es handelte von meinem Haar, wie sehr sie mein Haar mochte. Sie hatte Angst, ich würde mein Haar verlieren, sie würde mich verlieren. Man könnte denken, wie lieb, richtig? Aber ich war wütend. Ich dachte: Schreib keine Elogen auf mich. Schreib keine Chronik meines Todes. Ich liebe sie; sie ist meine liebste Freundin, aber ich möchte nicht, dass dies der Anfang meines Todes ist. Mein Tod ist kein Gedicht. Ich dachte an meinen Sohn, wie er bei dem Chemotherapie-Schild abbiegen musste, sterben musste. Ein Baby. Ich glaube, er ist tausendmal so tapfer wie ich. Ich habe Angst vor Schmerzen, vor dem, was ich über die Behandlung von Leukämie gelesen habe, über die hohle Nadel, die das Rückenmark aus der Wirbelsäule saugt. Mein Sohn hatte die Leukämie zurückgedrängt, dann war ein Wirbelsäulenkarzinom entstanden. Auch das hat er zurückgedrängt. Dann ist der Krebs in sein Gehirn gewandert, und die Leute haben gesagt: »Er ist doch noch ein Baby.«
    Er hatte eine Schwellung auf der Stirn, wie eine Orange, wie die Orange in mir. Aber bei ihm war es Krebs, und sie haben ihn nicht weggekriegt. Ich habe Angst vor Schmerzen, davor, zu leiden, aber ich habe mit Gott gesprochen, habe ihn gefragt. Ich habe gesagt, wenn mein Kind Schmerzen hatte, gib sie mir. Gib sie mir. Lass mich sie tragen. Und ich habe gewartet. Aber inzwischen denke ich, es gibt keine Abmachungen. Niemand muss leiden, um einen anderen zu

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