Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)
Ein nachdenklicher König, der zuhört.
An meinem ersten Arbeitstag in dem Heim zeigt mir der Programmdirektor mein Büro. Mein Schreibtisch hat keine Schubladen. Es gibt keine Schreibgeräte. Keinen Papierkorb. An der Decke ein schmutziger Lüftungsschlitz. Das Gebäude ist eine alte Fernsehstation aus den Fünfzigerjahren. Beengt und labyrinthisch. In den kleinen Büros schlafen bis zu zwei Familien. Kein Fenster. Keine frische Luft.
Als ich das Mädchen zum ersten Mal sehe, geht sie mit ihren Sachen in einer Plastiktüte den Flur entlang. Drei oder vier Jahre alt. Sie hört, wie meine Tür zuschnappt, dreht sich um und sagt: »Wohin gehst du?«
Und ich sage: »Nach Hause.« Ihr Dad steht in einiger Entfernung und wartet auf sie, damit sie durch die Tür zu den Zimmern für die Familien gehen können. Das Mädchen wirft mir eine Kusshand zu. Ich werfe eine zurück. Meine dauert ein paar Sekunden. Das Mädchen hebt die Hand zur Wange, überrascht. Ich höre ihren Namen nicht, als sie ihn sagt, bin verlegen, dass ich noch einmal fragen muss. Als wäre ich bei einer Cocktailparty und so nervös, dass ich meinen eigenen Namen vergessen könnte und mir keinen anderen Namen merken kann. Und vergesse darüber, dass sie drei Jahre alt ist und kein bisschen nachtragend.
Die Nofretete in dem »Head Start«-Werbefilm trug ihren Namen zu Recht. Königlich, mit geradem Rücken, den Kopf halb zurückgewandt zu den anderen Kindern, die drei Lieder nacheinander singen. Diese Nofretete, leuchtend, still, hält mir ihre Hand entgegen und zieht mich zu sich auf den Teppich hinunter. Verlangt, dass ich zuhöre, während sie mir eine Geschichte vorliest.
Wenn ich fotokopieren will, muss ich den Flur entlang zum Verwaltungsblock gehen. Jedes Mal, wenn ich mein Büro verlasse, muss ich es abschließen. Es muss viel abgeschlossen, aufgeschlossen werden. Ich hantiere mit meinen Schlüsseln, als ich einen Jungen, der kaum laufen kann, an der Eingangstür sehe. Die Schlüssel fliegen mir aus der Hand, als hätte er sie gerufen. Der gelb-grüne Kaftan seiner Mutter leuchtet so stark, dass ich meine Augen nicht abwenden kann. Sie sagt: »Hast du die Dame nervös gemacht?« Der Junge läuft auf mich zu, worauf seine Mutter lacht. »Mach schon, Moo Moo, drück sie.« Er rennt mich an, packt meine Knie fest, als wäre ich ein Pfahl – die Frau mit den fliegenden Schlüsseln.
Als die schrottreife Klimaanlage den Betrieb endgültig einstellt, muss ich die Tür offen lassen, um atmen zu können. Ein Mädchen schwebt herein, fragt: »Hast du Süßigkeiten?« Das einzig Bunte in meinem Büro ist eine blumige Schachtel mit Papiertaschentüchern, und sie zieht eins heraus, als wäre es ein Halstuch.
Einmal sehe ich nach der Arbeit die Frau, die den Boys & Girls Club leitet, mit einigen Kindern auf dem Parkplatz stehen, daneben ein Mann, der einen Stock mit Ringen hält, als wäre er im Zirkus. Er ist wegen der streunenden Hündin hier, die auf dem Gelände lebt. Aber er kann ihre Welpen nicht finden. Die Frau vom B&G Club fragt: »Können Sie den Hund nicht später holen?« Die Hündin hat gerade geworfen – sie war trächtig, jetzt ist sie wieder mager. Die Welpen sind frisch geboren, sie brauchen ihre Mutter. Die Frau vom B&G Club glaubt, die Welpen sind unter dem Containerbüro, und sagt: »Das gibt einen Gestank, wenn sie sterben.« Aber der Hausmeister sagt Nein, er habe in den letzten zwei Monaten dauernd den Tierschutzverein angerufen, und jedes Mal sei die Hündin verschwunden. Dann fängt der Mann mit dem beringten Stock die Hündin, und sie schreit wie jede Mutter. Er wirft sie hinten in den Lieferwagen. Er sagt etwas zu dem Hausmeister. Der Wagen ist so nah, dass ich fast in die Dunkelheit greifen und den Ring um den Hals der Hündin abstreifen kann.
Am nächsten Morgen gehe ich an dem Containerbüro vom B&G Club vorbei, versuche nach einem Wimmern zu lauschen. Michael, einer der Bewohner im Alkohol- und Drogenprogramm, geht am Rand der Wiese auf und ab, bis er ein Jaulen hört. Ein anderer Mann mit gezackten Zähnen kriecht auf dem Erdboden unter den Container und holt neun Welpen hervor – weiße, braune, schwarze. Er findet eine schmutzige rosa Decke, eine Plastikkiste, macht ein Bett. Die Welpen waren die ganze Nacht allein. Kein Schutz, keine Nahrung. Ich glaubte schon, sie seien tot. Aber als Michael sich nähert, höre ich ein Maulen. Die Augen noch geschlossen – sie sind wenige Tage alt.
Sharon aus der Anmeldung macht
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