Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)
können, und hält die Hände zu mir hoch. Es ist überall klebrig, das Gesicht, die Hände. Wie geschmolzenes Zuckerwerk. Aber ich bin dankbar, dass es die Arme zu mir hochstreckt, als gehörte ich zur Familie. Ich setze mir das Mädchen auf die Hüfte, und es ist beruhigt. Ich könnte ein Baum sein.
Die Einzigen, die zu mir kommen, mir die Hände entgegenstrecken, sind die Kinder. Die meisten Kinder sehe ich nur gelegentlich, aber Tiny und ihren Bruder sehe ich ein halbes Jahr lang jeden Tag. Jeden Tag streckt Tinys Bruder seinen Arm nach mir aus wie ein Baseballspieler und gibt mir die Hand, als hätte ich etwas gewonnen. Tiny umarmt mich, manchmal zweimal am Tag. Einmal war ich bedrückt, und sie steht vor meiner Tür wie eine winzige Großmutter und sagt: »Nimm mich in den Arm.« Sie ist zweieinhalb Jahre alt, als ich sie kennenlerne, ihr Bruder sieben. Sie gibt mir modische Ratschläge (»Mach den Mantel zu«) und dreht im Flur ihren Buggy auf den Kopf, um daraus einen Stuhl für Patienten zu machen. Sie bietet mir den Platz an. Als ich sage, ich sei zu groß, muss ich mich vor ihr wie ein Fotomodell herumdrehen, damit sie selbst sehen kann, ob ich hineinpasse. Ich halte mich möglichst auf Distanz, wie der Direktor verlangt hat, aber einmal schiebt Tiny in dem umzäunten Garten ihren Wagen, als sie plötzlich Pipi muss. Auf dem grauen Beton sieht das Helle aus wie Sonnenschein. Aber Tiny ist zutiefst verstört, sie weint auf ihrer Seite des Zauns, ich bin auf der anderen Seite. Ihr Vater brüllt etwas vom Picknicktisch herüber, wo er mit mehreren Frauen zusammensitzt. Schließlich streckt ihr Bruder seine Baseballspielerhand nach ihr aus und durchbricht den Moment. Danach bringe ich ein
Madeline
-Buch für sie mit, ein Geschenk, was gegen die Regeln ist, aber als ich in dem Wirrwarr der Büros das Büro ihrer Sozialarbeiterin finde, sagt sie, die Familie sei an diesem Morgen ausgezogen, in ein anderes Heim. Die Eltern hatten sich nicht an die Auflagen gehalten, und die ganze Familie wurde aus dem Heim ausgesperrt. Ausgesperrt. Aber als ich an dem Abend die Programmdirektorin treffe und befrage, lügt sie und sagt: »Sie sind bei Verwandten untergekommen.« Iris, die Sozialarbeiterin, sagte: »Tiny wollte mich gar nicht loslassen.« Wie an dem Tag, als Tiny sich ihre neue weiße Bluse angezogen hatte, die Haare mit Klammern zu kleinen Löckchen gesteckt, und nicht zum Arzt wollte.
Das letzte Mal sah ich Tiny und ihren Bruder am Abend davor. Sie spielten im Flur, und Tiny hat mich zweimal am Bauch geschubst, sanft, als wäre ich unbeweglich, wie eine Statue. Das hatte sie vorher noch nie getan. Aber sie wollte mit mir spielen, solange noch Zeit war.
Ohne Tiny denke ich, ich kann dort nicht mehr arbeiten. Sie war ein halbes Jahr in dem Heim und wohnte schon dort, als ich kam. Aber am nächsten Morgen fahre ich auf der Parramore Street an den amputierten Männern in Rollstühlen vorbei, an der Frau, die am Fenster von jedem Auto, das bei Rot hält, schreit. An dem kleinen Betonblock hinter dem Lebensmittelladen vorbei, auf dem in großen roten Buchstaben steht: NIEMAND SOLL MANGEL LEIDEN . Ich fahre an den dreihundert obdachlosen Männern vorbei, die auf der Straße herumlungern, nachdem sie den metallenen Männerpavillon verlassen haben. Sie bekommen eine Mahlzeit und verbringen die Nacht auf dem Fußboden. Jeder bekommt einen Liegeplatz – ein Rechteck, so groß wie ein Mensch, die Umrisse in Weiß auf den Betonboden gemalt, und einen leuchtend blauen Schlafsack, der in das Rechteck passt. Auf dem Parkplatz sind überall Urinrinnsale von Männern, die nicht warten wollen, bis die Toilette frei ist. Urin wie eine Wolke in meiner Kehle.
An einem anderen Tag wollte ich am Empfangstisch für die Bewohner um Einlass bitten, aber eine Frau spricht mit der Frau am Tisch. Ihr Baby sitzt auf der Theke, Josiah. Er ist so schön, dass ich ihn begrüßen muss. Josiah, König von Judah im siebten Jahrhundert vor Christus, Josiah, das heißt
Jahwe heilt.
Später gibt es einen Feueralarm, und ich halte ihn auf meinen Armen. Das ist das, was ich am allermeisten will, ein Baby auf den Armen halten. Hier hat niemand Angst vor meiner Zerbrochenheit – alle sind so zerstört, dass niemand sie bemerkt. Wenn ich das Baby halte, ist es so, als würde in mir alles von Licht überflutet. Ich höre auf, Wörter nachzusprechen, zu stottern, zu zittern. Er hört auf zu weinen, wenn ich mit ihm spreche, er sieht mir in die Augen.
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