Ich übe für den Himmel
endlich an.
Als ich keine Tränen mehr habe, sagt Eddie:
»Papa meint, dass du der geborene Clown bist, und er will dich auf die gleiche Schule in die Schweiz schicken, wo er Mama kennengelernt hat.«
»Hat er das ehrlich gesagt?«
»Ja, ganz ehrlich. Er hat gesagt, dass er irgendwie das Geld schon zusammenkriegen wird.«
Papa und Mama wollen mir meinen Wunschtraum erfüllen!
»Die Dimitri-Clown-Schule in Locarno ist teuer, Eddie. Ich müsste dort auch wohnen, weil Locarno in der Schweiz liegt.«
»Aber du gehst doch noch nicht weg, Isha, oder?«
»Nein, Eddie, ich bleibe noch mindestens sieben Jahre bei dir, weil ich erst die Schule hier in Blankenese fertig machen will.«
»Dann ist es gut«, sagt Eddie. »Dann sind wir noch lange zusammen, viele Sonnen, Monde und Sterne hintereinander.«
Wo er das wohl her hat? Es erinnert mich an mein Buch mit Indianermärchen, in dem ich so gerne lese.
»Wie meinst du das?«
»Die Sonne kommt doch jeden Morgen und geht abends wieder weg, dann male ich einen gelben Strich in mein Heft. Danach kommen Mond und Sterne, das ist wieder ein Strich, ein blauer. Striche machen ist leichter als Buchstaben schreiben. Ich habe schon viele Striche gesammelt.«
Wir liegen noch eine Weile auf Tante Antje. Dann fällt mir plötzlich ein, dass ich unbedingt sofort Frau Schröder besuchen muss.
Mir ist nach Frau Schröder zumute. Else heißt sie mit Vornamen und ich nenne sie heimlich Elsebilse oder Ellebelle. Sie ist für mich so ein bisschen wie die Elbe und mein zweites Zuhause. Bei ihr werde ich immer ruhig, egal wie aufgeregt ich an ihrer Haustür klingele. Ich muss zwar meistens lange warten, weil Frau Schröder wie Opa zwei Hörknöpfe in den Ohren trägt und die manchmal nicht eingeschaltet hat. Aber irgendwann geht jedes Mal der Türsummer und ich stürze rauf in den ersten Stock. In ihrer Wohnung liegen dicke Teppiche auf dem Boden und stehen fast nur antike Möbel. »Alles aus der Familie«, sagt Frau Schröder. Aber ihre Küche ist genau das Gegenteil, die sieht aus wie ein Raketencockpit.
»Habe ich mir aufschwatzen lassen, als ich hier einzog. Sieht aber interessant aus, findest du nicht auch, Isha?«
Jetzt klingle ich, nichts rührt sich.
Ich werfe Steinchen an ihre Balkonscheibe. Sie hört und sieht mich nicht, auch nicht, nachdem ich schon Sturm geklingelt habe. Eine Nachbarin aus dem Haus macht auf. Sie gibt mir die Schlüssel für Frau Schröders Wohnung.
»Hoffentlich ist ihr nichts passiert«, sagt sie besorgt. »Man weiß es ja nie in dem Alter.«
Davor habe ich auch Angst, dass ich Frau Schröder finde, irgendwo am Boden, hingefallen … Mein großer Angstelefant steht wieder neben mir.
Aber sie hat doch etwas bemerkt und wartet schon an der Tür.
»Die liebe Isha!«, begrüßt sie mich freundlich und umarmt mich. Frau Schröder ist so dünn wie Tommy, nur ein bisschen länger.
Aber das werde ich ihr nie sagen. Ich rieche sie gern, sie duftet nach Maiglöckchen, immer.
»Sie riechen so gut«, sage ich.
»Ich lege mir ständig Parfum auf«, sagt sie, »damit du mein Alter nicht riechst.« Weil ich nicht weiß, wie Alter riecht, kann ich darauf nicht antworten. Frau Schröder lacht über mein verdutztes Gesicht und ich lache erleichtert mit.
In der Raumschiff-Enterprise-Küche machen wir uns einen Tee und tragen die antike Kanne aus schwerem Silber in das sonnige Wohnzimmer. Hier trinken wir den Tee aus hauchdünnen Porzellantassen mit viel Zucker und knabbern und naschen Berge von Schokokeksen und gesalzenen Nüssen. Frau Schröder pafft genüsslich kleine Zigarillos dazu. »In Gesellschaft macht das Rauchen erst richtig Spaß«, ist ihre Meinung dazu. »Allein ist eben doch allein.«
»Frau Schröder«, fange ich an, »ich habe einen Toten angefasst. Gestern. Ein Kind.«
»Eigentlich möchte ich nicht über Tote reden.«
»Warum nicht?«
»Weil ich auch bald tot bin. Bin ja schon dreiundneunzig. Davon will ich nichts hören.«
»Heute werden die Leute doch mindestens hundert!«, fällt mir Gott sei Dank ein.
»Na gut, weil du es bist, sprechen wir darüber. Aber nicht zu viel. Friedhof, das ist auch so ein Wort, das ich nicht in den Mund nehmen möchte. Eigentlich gar nicht. Mit meinen verstorbenen Liebsten kann ich mich auch von hier aus unterhalten. Mit einer guten Zigarre oder einem Zigarillo und einem Glas Amaretto oder einem alten Sherry. Ich mache meistens die Balkontür auf, dann brauchen sie nicht durch die dicke Glasscheibe zu mir zu
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