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Ich übe für den Himmel

Ich übe für den Himmel

Titel: Ich übe für den Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patmos
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kommen.«
    Da bin ich sprachlos. Frau Schröder spricht mit ihren toten Verwandten? »Sagen sie, ich meine die Verstorbenen, sagen die etwas zu Ihnen?«
    »Manchmal schon. Wenn ich genau hinhöre. Dafür brauche ich noch nicht einmal meine Ohrknöpfe einzuschalten.«
    »Dann kann es also sein, dass Tommy mit mir gesprochen hat, obwohl er gerade gestorben war?«
    »Das ist gut möglich. Wer ist Tommy?« Sie zündet sich einen neuen Zigarillo an. »Ich brauche ein Glas Amaretto. Du auch?«
    »Frau Schröder, ich bin elf.«
    »Stimmt. Hatte ich fast vergessen. Mit dir unterhalte ich mich meistens besser als mit meiner eigenen erwachsenen Mischpoke.«
    »Was ist eine Mischpoke?«
    »Meine Sippschaft, meine Verwandten.« Frau Schröder gießt sich ein Glas von dem süßen Mandellikör ein und setzt sich wieder. Mir fällt meine Mutter ein. Ich finde sie richtig schön. Sie hat genau wie ich rötliche, dicke Haare, aber blaue Augen. Sie ist klein und zart, und von hinten sieht sie aus wie eine Schülerin. Sie bewegt sich wie eine Tänzerin. Frau Schröder finde ich auch schön, obwohl sie schon so alt ist. Sie ist anders schön als Mama. Meine Mathematiklehrerin finde ich nicht schön. Die ist zwar auch schon ziemlich alt, so ungefähr vierzig oder so, aber sie sieht ganz anders aus als Frau Schröder. Vielleicht, weil sie oft unzufrieden guckt. Frau Schröder guckt nie unzufrieden, höchstens nachdenklich.
    »Frau Schröder ist eine weise Frau«, sagt Papa oft. Vielleicht sehen alle weisen Menschen so aus wie Frau Schröder.
    Ich erzähle ihr von Tommy und wie ich ihn kennengelernt habe und von seiner Krankheit und seinem Tod.
    »Tommy ist gestern gestorben«, flüstere ich fast.
    Frau Schröder nimmt einen tiefen Schluck aus ihrem Glas, das in der Sonne funkelt.
    »Das ist nicht gerecht.«
    »Wie meinen Sie das?«
    »Dass Kinder so jung sterben müssen und ich immer älter werde und eigentlich schon tot sein müsste.«
    »Warum sollten Sie schon tot sein?«
    »Ich habe lange genug gelebt. Ich durfte so viel erleben.«
    »Aber Tommy hat auch viel erlebt. Er weiß, wie man in den Himmel fliegen kann, und wer weiß das schon? Wir haben das vorher zusammen geübt.«
    Frau Schröders Augen sind sonst immer hellblau. Jetzt verwandeln sie sich in dunkelblaue Kristalle, weil sie sich mit Tränen füllen und glitzern.
    »Da hast du recht, Isha. Ich durfte in meinem ganzen langen Leben noch nicht erleben, wie es ist, für den Himmel zu üben. Ich muss warten, bis ich geholt werde, wahrscheinlich ohne vorher zu üben.«
    »Haben Sie Angst vor dem Tod?«
    »Ja, das habe ich.«
    »Warum?«
    »Weil ich Angst habe, dass das Sterben zu lange dauert. Ich möchte nicht nur noch im Bett liegen müssen und nicht mehr wissen, dass ich noch lebe.«
    »Waren Sie schon mal richtig krank, so wie Tommy, 365 Tage lang hintereinander? Er hing fast immer an Geräten und durch Schläuche wurden Chemos in seinen Körper gepumpt. Die sollten die aggressiven Krebszellen töten, damit sie die gesunden Zellen nicht mehr fressen. Nach den Chemos musste Tommy sich ständig übergeben. Er hatte Megaschmerzen.«
    »Eigentlich möchte ich nicht darüber reden.«
    »Sie haben es mir aber eben erlaubt.«
    Frau Schröder nimmt noch einen großen Schluck Amaretto und ich stopfe mir drei Schokokekse auf einmal in den Mund. Die Hälfte fällt zurück auf mein T-Shirt und den dicken Teppich.
    »Ich war nie lange krank, nur dies und das. Wehwehchen. Aber alt werden ist nicht so einfach. Die Füße tun dir weh, die Zehen werden krumm und die Nägel gelb. Auf der Haut bauen sich braune Flecken ganze Dörfer. Und an deinem Kinn sprießen lange Barthaare und du riechst nicht immer gut. Die Zähne fallen dir aus, beim Essen klappert das Gebiss und der Rücken tut dir oft weh. Die Haut schlabbert wie ein zu großes Kleid um deinen Körper. Du kannst nicht mehr richtig durchschlafen, hast Mühe die Treppen hochzukommen und vergisst ständig irgendetwas. Du kannst keine schweren Taschen mehr tragen und von meiner Taubheit will ich gar nicht sprechen.«
    »Das ist ja schrecklich«, höre ich mich zu meinem Entsetzen sagen. »Entschuldigung, ich meinte das nicht so.«
    Es ist mir echt peinlich. Wie soll ich sie bloß trösten?
    »Aber, aber Sie haben doch uns?«, stottere ich. »Wir helfen Ihnen richtig gerne! Sie brauchen nur anzurufen. Papa trägt Ihnen die Taschen hoch, Mama rupft Ihnen die Barthaare raus, wir können für Sie kochen und abwaschen und … Und ich finde das

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