Ich und andere uncoole Dinge in New York
Immerhin ist sie ehrlich.
„Aber womit soll ich dir helfen?“
„Du wohnst doch mit Ben zusammen. Lass einfach einfließen, dass ich dich um Rat gefragt habe, wie ich ihn dazu kriegen kann, dass er mich nicht mehr anruft. Das wird ihm so unangenehm sein, dass er damit aufhört. Und es ist ja die Wahrheit, nicht wahr?“
Ich bezweifele, dass Ben sich so schnell abschrecken lässt. „Sag doch einfach, dass du einen Freund hast.“
„Das klappt nicht.“ Gretchen wird rot, was so merkwürdig aussieht, dass mir auffällt, dass ich das bei ihr noch nie gesehen habe. Eine merkwürdige Vorstellung, dass Gretchen ein echtes Privatleben mit Gefühlen und allem Drum und Dran hat.
„Danke“, antwortet Gretchen, als wäre jetzt alles klar, und stiefelt weiter.
Abends macht der Campleiter ein paar Spiele mit uns, bei denen es hauptsächlich darum geht, persönliche Informationen preiszugeben.
„Bei Scirox bekommt man den Psychiater gratis mit dem Job dazu“, flüstert Rachel mir zu. Als es endlich vorbei ist, gibt es eine kleine Party mit bunten, alkoholfreien Getränken. Na prima.
„Ich rufe Amal an, wann sie endlich hier sind, um uns von dieser Trauerfeier zu retten“, sagt Rachel und macht sich mit ihrem Telefon davon. Als sie gerade weg ist, kommt Gretchen: „Du wirst an der Rezeption verlangt.“
Das ging ja schnell. Ich proste Gretchen unschuldig mit meinem roten Sprudel zu, verdrücke mich nach draußen und gehe über den kleinen Feldweg zur Rezeptionshütte. Für jede Tätigkeit gibt es hier eine eigene Holzhütte: Essenshütte, Schlafhütte, Meeting-Hütte, Klohütte. An der Rezeption steht jemand mit dem Rücken zu mir. Die Person dreht sich um, als sie meine Schritte hört, und ich brauche immer noch ein paar Sekunden, um ihn zu erkennen, denn die Informationen, die ich dafür brauche, sind in einem ganz anderen Teil meines Gehirns gespeichert, der nichts mit Scirox zu tun hat: Peter.
„Meine Güte, was machst du denn hier?“
Die Rezeptionistin unterbricht mich drohend: „Er hat gesagt, Sie erwarten ihn“, und durchbohrt mich mit Blicken.
„Ja, natürlich. Sorry, ich bin nur etwas durcheinander.“ Ich schenke ihr das netteste Lächeln, das ich hervorpressen kann.
„Kommst du mit raus?“, fragt Peter und blickt mich fast ängstlich an. Außerdem hat er blutunterlaufende Augen und sieht, man kann es nicht anders sagen, beschissen aus.
„Klar“, versuche ich neutral und freundlich zu sagen, obwohl mein Magen sich mal wieder zu einem winzigen Ball verknäult hat. Ich nicke der Rezeptionistin zu, als sei alles in Ordnung, und folge Peter nach draußen. Die Sonne ist schon gesunken, aber es ist noch hell. Wir gehen ein paar Schritte von der Hütte weg Richtung Wald.
„Was machst du hier?“
„Judith, es tut mir so leid. Das ist alles eine lange Geschichte. Ich weiß, was du denken musst und wie armselig sich alles anhört, was ich sage.“
„Ich glaube, ich habe mich in meinem Leben noch nie so schlecht gefühlt.“
„Jetzt? Bist du krank?“, fragt Peter und mustert mich besorgt.
Ich sehe ihn mit etwas an, das hoffentlich ein vernichtender Blick ist.
„Ach so.“ Er wendet die Augen ab. Er greift nach meinem Arm. Ich schüttele in ab.
„Judith, sieh mich an. Ich kann dir nicht sagen, was für Vorwürfe ich mir mache. Das hätte nie geschehen dürfen.“
„Aber es ist geschehen.“
„Judith, du verstehst nichts“, und dann hält Peter kurz inne. „Ich weiß, das geht ja auch gar nicht.“ Und das Nächste, was ich höre, ist ein Schluchzen. Und dann noch eins. Peter fängt an zu heulen. Nicht mal so anders, als ich vor ein paar Tagen geheult habe, mit dem Unterschied, dass hier außer mir immerhin keine Zuschauer sind.
„Ich habe Mist gebaut. Ich habe schon häufiger Mist gebaut im Leben. Ich will mich ändern. Ich habe dir nicht alles erzählt. Aber ich mag dich wirklich sehr und ich glaube, mit dir kann ich das schaffen.“
„Was schaffen?“
„Mich zu ändern.“
Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Peter wischt sich mit der Hand über das Gesicht und unterdrückt seine Schluchzer, so dass sie langsam verschwinden. Aber in seinen Augen stehen noch die Tränen. Seine langen Haarsträhnen fallen in seine roten Augen. Er sieht wirklich elend aus, aber fürchterlich attraktiv in seinem Elend. Er wischt die restlichen Tränen mit dem Unterarm zur Seite. Männer, die heulen, sind das Traurigste, was es gibt. Heulende Mädels sieht man schließlich laufend.
Peter
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