Ich und andere uncoole Dinge in New York
Vielleicht gibt es noch Hoffnung und ich kann alles wieder geradebiegen. Immerhin redet sie überhaupt noch mit mir. Ich stehe auf, lehne mich auf ihre Seite und räuspere mich.
„Ich will’s nicht hören“, sagt Rachel, bevor ich etwas sagen kann.
„Ich muss es dir aber erklären. Er hat so viele Dinge gesagt und dann ... “
„Tu mir einfach den Gefallen und behalt’s für dich. Ich habe nichts gegen Flittchen und Schlampen. Ich wäre liebend gern eine weitaus größere Schlampe, als ich bin, wenn ich Gelegenheit dazu hätte. Aber wie du Adam so weh tun konntest, ist mir ein Rätsel. Und mich dann noch vollblubbern mit ‚Ich meine es wirklich total ernst‘. Du hast mich doch verarscht. Und schlimmer noch, du hast ihn total verarscht.“ Ihre Stimme ist ruhig, aber gefühllos.
„Rachel. Ich weiß, ich bin blind und blöd, aber Peter …“
Rachel setzt ihre riesigen Spezial-Kopfhörer auf, die auch den Schall im Büro ausblenden und starrt auf ihren Bildschirm. Dann blickt sie mich mit ihren großen, schwarzen Augen an und schüttelt langsam den Kopf. „Echt nicht.“
Okay, ich habe verstanden. Ich meine, Rachel muss ja wirklich denken, dass ich nur Käse erzählt habe. Aber ich wusste doch selbst nicht, was los war. Wäre ich vorher schlauer gewesen, wäre das Ganze schließlich nie passiert. Aber sie blickt stur auf ihren Computer. Das ist eine verlorene Front. Am anderen Ende sehe ich aus dem Augenwinkel schon Gretchen vorbeischweben. Ich ducke mich, als könnte ich ihr dadurch entgehen. Ich könnte sagen, dass jemand gestorben ist. Aber meine Mutter lebt noch, mein Vater auch und Geschwister habe ich nicht. Ich könnte vielleicht einen Bruder erfinden. Aber dann müsste ich noch zur Beerdigung. Vielleicht eine Oma, die erst im nächsten Monat eine Urnenbestattung bekommt? Das könnte gehen. Deshalb musste ich mitten in der Nacht los, ohne jemandem Bescheid geben zu können? Mhhhh. Das hört sich nicht nur wenig glaubhaft, sondern auch ziemlich bescheuert an und erklärt nicht, warum ich sang- und komplett klanglos verschwunden bin. Das war definitiv nicht in Ordnung. Vor allem nicht, weil Gretchen vorher noch stolz erzählt hat, wie teuer diese Wochenend-Bonding-Session für jeden Mitarbeiter ist und wie wahnsinnig großzügig es von Scirox ist, sie sogar für die Praktikanten zu finanzieren.
„Judith?“
Mir entfährt ein Schreckensschrei.
„Uuuuuuuh. Sorry. Ich wollte dir kein Messer in den Rücken jagen.“
Ich blicke hoch und hinter mir steht Louis und sieht mich mit freundlichen, braunen Augen an. Er erinnert mich immer an einen Labrador. „Hey, Louis.“
„Geht’s dir besser? Schade, dass du gehen musstest.“
„Ja, mir geht’s besser“, nicke ich vorsichtshalber. Vielleicht denkt er, ich sei krank geworden. „War’s noch gut?“
„Meine Mutter hat auch Diabetes.“
„Ah, ja“, sage ich. „Das tut mir leid.“ Mit Diabetes kenne ich mich nicht aus, jetzt bloß nichts Falsches sagen.
„Mhh, ich muss leider weitermachen.“ Ich nicke mit dem Kopf in Richtung Gretchen als Erklärung.
„Ja, bis später dann.“ Louis steckt seine Hände in die Jeans und bleibt stehen. „Soll ich dir was zu trinken mitbringen? Ich gehe gerade zum Automaten.“
„Nein, später. Danke, Louis.“
Louis trottet davon. Ich sollte mich anstrengen, nett zu ihm zu sein, weil er vielleicht der einzige ist, der mir bleibt. Rachel steckt kurz ihren Kopf über die Trennwand:
„Nur, dass du das nicht auch noch versaust. Wir haben gesagt, dass du dein neues Diabetes-Mittel nicht vertragen hast, fast ohnmächtig geworden bist und dann ganz schnell zu einem Arzt fahren musstest, der dich direkt nach Hause geschickt hat. Nicht die beste Ausrede, aber das ist einer Freundin wirklich mal passiert, muss also plausibel sein. Also: ab jetzt bist du Diabetikerin, nicht vergessen.“ Und damit verschwindet ihr Gesicht wieder. Sie muss immerhin die Kopfhörer abgenommen und zugehört haben. Ihr Tonfall verrät allerdings überdeutlich, dass sie mich als ihre Ex-Freundin und nicht als ihre Freundin betrachtet. Es gibt eigentlich, abgesehen von Louis, nur eine Person, die mich noch sehen will. Leider ist das genau die Person, die ich jetzt am wenigsten gebrauchen kann: meine Mutter. Sie hat in einem Anfall von mütterlicher Sorge zahlreiche Nachrichten auf meinem Handy hinterlassen. Sie will einen Shopping-Bummel machen, um mich abzulenken. Leider habe ich ihr gestern in einem Anfall von Leichtsinn
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