Ich und andere uncoole Dinge in New York
ab.
„Judith, alles in Ordnung? Hast du geweint?“, fragt sie überrascht, als sie mich ansieht.
Ich schüttele den Kopf. „Mir ist was ins Auge geflogen.“
„Ah“, sagt meine Mutter. Und in diesem Moment bin ich fest davon überzeugt, dass nur meine Mutter so eine lahme Ausrede glauben kann, einfach, weil sie gar keine Lust hat, sich zu überlegen, warum ich traurig sein könnte. Dann wirft Regine fünf Dollar in den Schlitz und zündet mit betroffenem Gesichtsausdruck, als würde sie gerade an ihre verstorbenen Vorfahren denken, fünf Kerzen an. Ich weiß aber, dass sie nur an den Erfolg ihrer Ausstellung denkt.
„Weißt du was, Mama? Manchmal wünschte ich, dass du ein bisschen mehr wie eine echte Mutter wärst.“
„Was meinst du denn damit?“ Sie sieht mich ehrlich entsetzt mit aufgerissenen braunen Augen an.
„Du bist doch eigentlich nur mit dir selbst beschäftigt.“ Und dann kommt in einer Tirade meine ganze Wut und mein ganzer Frust heraus, aber ich stehe wirklich auf jeder ihrer To-do-Listen ganz unten und das ist doch einfach unfair, schließlich wollte sie doch ein Kind und ich konnte mir meine Mutter nicht aussuchen. Als ich fertig bin, sehe ich sie erschöpft an. Sie blickt genauso erschöpft zurück.
„Das denkst du wirklich?“ Sie sieht hilflos aus. Und betroffen. „Ich bin wahrscheinlich eine schlechte Mutter. Dafür gibt es leider keine Kurse.“ Sie sieht mich traurig an und fast bereue ich meinen Ausbruch. „Weißt du, Judith, ich wäre fast hinter dem Tresen von Omas Apotheke versauert. Immer musste ich etwas sein. Die Apothekerstocher. Die Ehefrau. Die Mutter. Erst dachte ich, dein Vater könnte mich retten, aber der ist zufrieden, wenn er seine Bücher hat. Mir war da s alles zu eng. Ich bin auch bloß ein Mensch und versuche glücklich zu sein. Es tut mir leid, wenn ich zu wenig für dich da war.“
Sie fährt sich mit der Hand über ihre plötzlich tränengefüllten Augen und fügt etwas schnippischer hinzu: „Aber ich habe das Gefühl, du willst mir sowieso nichts über dein Leben erzählen.“
Damit hat sie natürlich auch recht. Ich wünschte einfach, nicht jeder Teil meines Lebens wäre so schrecklich kompliziert, aber zum Abschied umarmen wir uns ungewohnt eng und lang.
Am nächsten Tag spricht Rachel immer noch nicht mit mir. Ich habe zwar in unserem Apartment geschlafen, aber wir sind getrennt zu Scirox gefahren. Jetzt sitzt sie mit Kopfhörern in ihrem Cubicle. Wenn ich in der Schule mit meiner besten Freundin Charlotte wegen einem Streit nicht mehr spreche, ist es trotzdem anders. Wir sind dann so konsequent, dass wir das aus praktischen Erwägungen überhaupt nicht durchhalten können, und uns schnell wieder vertragen, nachdem wir das Schweigen notgedrungen einmal gebrochen haben, zum Beispiel wenn wir zusammen ein Bio-Experiment machen müssen. Rachels Schweigen ist anders. Sie ist weniger konsequent, aber das macht es viel schlimmer. Sie beredet sachlich alles Notwendige bei Scirox und zu Hause, aber eben kein Wort zu viel. Dabei sieht sie mich noch nicht mal mit ihrem perfekt bitchigen Du-kannst-mich-mal-Blick an, sondern eher mit einem traurigen Ich-bin-fürchterlich-enttäuscht-Blick. Das ist viel unerträglicher. Das kann sie außerdem ewig durchhalten und ich glaube, genau das hat sie vor. Ewig ist in diesem Fall ja sowieso nur noch zwei Wochen. Dann geht mein Flug zurück.
Peter hat mir ein paar Nachrichten hinterlassen und E-Mails geschrieben, aber damit ziemlich schnell aufgehört, als ich nicht geantwortet habe. Er hat sogar viel zu schnell damit aufgehört. Ich bin so wütend auf ihn, aber ich werde nicht anrufen. Noch nicht. Erst wenn ich genau weiß, was ich ihm sagen will, und nicht direkt wieder losheule. Wahrscheinlich tröstet er sich mit Florence. Gerontophilie nennt man das, glaube ich, wenn man auf alte Frauen oder Leichen steht. Wie konnte ich nur so dumm sein.
„Kannst du mir bitte die neue Doku auf den Tisch legen.“ Gretchens energische Stimme dringt durch meine Gedanken.
„Klar“, ich lächele sie freundlich an.
„Wir müssen später noch etwas besprechen.“ Sie sieht mich eindringlich an und verschwindet. Mein Magen zieht sich auf Erbsengröße zusammen. Ich habe keine Ahnung, wie ich ihr das mit dem Diabetes erklären soll. Ich habe null Schimmer davon und das merkt sie bestimmt. Den Tag über arbeite ich selbstquälerisch an der Doku, um sie besonders gut zu machen. Nachmittags, als Gretchen einen Moment nicht an
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