Ich und andere uncoole Dinge in New York
wieder auf der Straße stehen. Wie war euer Ausflug mit Scirox? Nette Jungs dabei?“
Sie sieht mich an, als würde sie ernsthaft damit rechnen, dass ich auf so eine beknackte Frage antworten könnte. Vielleicht sollte ich ihr einfach antworten: Ja, Mama, es waren nette Jungs da. Der, an den ich meine Jungfräulichkeit verloren habe, ohne dass er das mitgekriegt hat, ist leider ein Drogendealer. Bei dem anderen, mit dem ich geknutscht habe, habe ich leider erst gerafft, wie cool er ist, als ich ihm so weh getan habe, dass er nie mehr mit mir reden will, und tja, weil es der Bruder von Rachel ist, hasst mich jetzt auch die einzige Freundin, die ich hier und eigentlich überhaupt jemals hatte.
Vor uns ragt die St.-Patricks-Kathedrale in den Himmel. Eine gotische Kirche mit spitzen Fenstern, die wahllos zwischen dem Einkaufstempel und Bürogebäude auf den Asphalt geworfen ist. Die spitzen Türme spiegeln sich in den dunkeln Glasquadraten der angrenzenden Hochhäuser.
„Lass uns eine Kerze anzünden“, sagt Regine mit ihrer ernsten, inbrünstigen Stimme, die sie für alles, was mit Kirche zu tun hat, reserviert hat.
„Warum denn das? Ist jemand gestorben?“
„Für das Gelingen meiner Ausstellung.“
„Du warst schon ewig nicht mehr in der Kirche. Meinst du ein kleines Kerzchen kann den lieben Gott von der Wichtigkeit deiner Ausstellung überzeugen?“
„Vergiss nicht, dass ich katholisch bin. Wir Katholiken können zur Beichte gehen, Buße tun und uns wird verziehen. Der liebe Gott kann mir sogar verzeihen, dass ich deinem Vater nachgegeben habe und du deshalb evangelisch bist.“
Ich seufze und laufe hinter ihr die Treppen zum Eingang hoch. Von außen ist die Kathedrale schmucklos, abgesehen von den verspielten Reliefs über den Türen, die aussehen wie frisch aus der Fabrik und nicht durch sauren Regen oder die Zeit angegriffen sind. Die Kathedrale könnte auch ein Schloss aus Plastik in Disneyland sein. Innen ist die Kirche viel größer als außen. Die Luft legt sich feucht auf meine Haut. Meine Mutter geht zielstrebig nach vorn und ich setze mich auf eine Holzbank unter die gigantische, amerikanische Flagge. Immerhin ist nirgendwo Jesus am Kreuz zu sehen. Aber in dieser Hinsicht ist auf Amerika Verlass: Unangenehmes wird ausgeblendet, stattdessen wird eine Flagge aufgehängt. Niemand sieht schließlich gern einen an Armen und Beinen festgenagelten Menschen. Die Bilder, die Statuen, die bunten Fenster – ich werde mich später wie immer an nichts erinnern. Auf einer Italienreise habe ich mal massenhaft Kirchen mit meinen Eltern besucht, aber in meiner Erinnerung verschmelzen alle zu einer Mischung aus modrigem Weihrauchgeruch, Frauen in blauen Gewändern, Männern in weiten Umhängen, und Kreuzen, aus denen ich keine einzige Kirche mehr herausfiltern kann. Plötzlich erklingt ein so gewaltiger Orgelakkord, dass meine Innereien sich vor Schreck zusammenziehen. Als ich hochsehe, steht meine Mutter neben mir.
„Bach. Messe H-Moll. Sie proben. Wir haben wahnsinniges Glück“, sagt sie. Dann setzt sie sich neben mich.
Die Musik ist tatsächlich Wahnsinn. Das ist keine Messe für einen tölpeligen Gott, der mit einem weißen Rauschebart auf einer Wolke sitzt und alles verzeiht, wenn man ein wenig Reue zeigt. Meine Güte, ich habe wirklich Mist gebaut. Ich stehe auf und laufe zum Altar. Die dicken, hohen Säulen, die die Sitzreihen säumen, verwandeln den Gang zu einer Schneise. Vorn ist alles Gold und die kräftigen roten Teppiche wirken eitel wie ein zu stark geschminktes Gesicht. Neben dem Altar ist die Nische mit den Kerzen. Ich finde noch eine zerknitterte Dollarnote in meiner Tasche und stecke eine Kerze an. Ich atme tief durch und hoffe, dass Adam mir verzeihen kann. Und Rachel. Und ich hoffe, dass ich in Zukunft bessere Entscheidungen treffe. Und dabei muss ich an Peter denken und werde wütend. Wie konnte er nur so einen Mist erzählen? Er will sich ändern? Dass ich nicht lache. Aber tief drinnen weiß ich, dass ich selbst schuld bin. Dass er nicht vorgegeben hat, jemand anders zu sein, und dass ich einfach das gesehen und das geglaubt habe, was ich sehen und glauben wollte. Und dann schlägt eine Welle von Selbstmitleid über mir zusammen und ich muss heulen. Unaufhaltsam und lautlos fließen ganze Bäche meine Wangen herunter, fast so, als hätten die Tränen nichts mit mir zu tun. Als ich die Schritte meiner Mutter hinter mir höre, wische ich mein Gesicht schnell an meinem Shirt
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