Ich und Earl und das sterbende Mädchen: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
können sich einfach nicht mit ihm unterhalten wie mit einem normalen Menschen. Sie beugen sich viel zu weit zu ihm runter und sprechen in so einem lächerlichen, auf- und absteigenden Singsang: » Hal -lo Ear -rul!« Als würde er ein unsichtbares Kraftfeld ausströmen, das die Leute bescheuert macht.
Das Schlimmste daran ist, dass alle seine Verwandten größer sind als er – seine Brüder und Halbbrüder, seine Stiefschwestern, seine Cousins und Cousinen, seine Tanten und Onkel, sein Stiefvater, selbst seine Mom. Es ist wirklich ungerecht. Auf Familienfesten tätschelt ihm ungefähr alle neunzig Sekunden irgendwer freundlich den Kopf, und das nicht immer unbedingt jemand, der älter ist als er. Er wird ständig von Leuten zur Seite gestoßen, die nicht einmal merken, dass sie ihn zur Seite stoßen. Wenn er vor die Tür geht, kommen seine Brüder angerannt und veranstalten Bockspringen über seinem Kopf. Wenn das euer Leben wäre, ihr hättet auch eine permanente Wut im Bauch.
Andererseits ist Earls Zuhause in gewisser Hinsicht ziemlich cool. Er wohnt mehr oder weniger unbeaufsichtigt mit zwei Brüdern, drei Halbbrüdern und einem Hund in einem riesigen Haus ein paar Straßenecken oberhalb der Penn Avenue, wo sie die meiste Zeit nichts anderes machen als Videospiele zu spielen und sich Pizza liefern zu lassen. Seine Mom wohnt auch im Haus, aber sie bleibt meistens oben im zweiten Stock. Über das, was sie da oben macht, wird selten geredet – besonders nicht, wenn Earl in der Nähe ist – , aber ich kann zumindest so viel sagen: Bacardi Silver Mojitos und Chatrooms spielen eine Rolle dabei. Und im Erdgeschoss hocken sechs Kerle und lassen die Sau raus. Party ohne Ende! Wo liegt das Problem?
Problem Nr. 1. Na ja, da wäre die beunruhigende Finanzsituation. Die Väter sind abwesend – Earls Dad ist in Texas oder so, und der Dad der Halbbrüder sitzt im Gefängnis – , und Earls Mom bringt eigentlich kaum Geld ins Haus. Zwei Halbbrüder, die Zwillinge Maxwell und Felix, sind Mitglieder in einer der aufstrebenden Gangs von Homewood – The Frankstown Murda Cru – und tragen durch Dealen ein wenig zum Familienunterhalt bei. Earl selber hat die meisten wichtigen Drogen durchprobiert, obwohl er heutzutage nur noch Zigaretten raucht. Es gibt daher gewisse Vorkommnisse von Drogenhandel und Gangaktivitäten im Haus, was man wahrscheinlich als Problem bezeichnen könnte.
Probleme 2 und 3. Ich schätze, ich sollte auch erwähnen, dass im Haus ein kleines Lärmproblem existiert – Videospiele, Musik, Geschrei – und auch ein Geruchsproblem. Gewöhnlich liegt überall Müll herum, unter dem sich häufig kleine Pfützen aus Müllsaft gebildet haben; außerdem werfen die Jungs nicht sehr oft die Waschmaschine an. Manchmal besäuft sich auch einer exzessiv und erbricht sich über den Fußboden, und es kann manchmal tagelang dauern, bis jemand das aufwischt, wie auch die vom Hund dort regelmäßig hinterlassenen Haufen. Ich will jetzt nicht »rumzicken wie ein verkniffenes Arschloch« (Felix’ Formulierung), aber in Sachen Wohnsituation ist es dort sicherlich suboptimal.
Problem 4. Außerdem ist es keine ausgesprochen akademische Umgebung. Earl ist der Einzige, der jeden Tag zur Schule geht; Devin und Derrick kreuzen manchmal wochenlang nicht im Unterricht auf; die Halbbrüder haben allesamt die Schule geschmissen, auch der dreizehnjährige Brandon, der vermutlich der gewalttätigste und aggressivste von allen ist. (Zum Beispiel hat er ein riesiges und schmerzhaft aussehendes Nackentattoo mit dem Schriftzug » TRU NIGGA «, umrahmt von ein paar Abbildungen von Handfeuerwaffen. Brandon besitzt selber eine Knarre und hat es auch schon fertiggebracht, einen anderen Menschen zu schwängern, obwohl er noch nicht mal richtig durch den Stimmbruch ist. Würde die Stadt Pittsburgh einen Preis für den am wenigsten vielversprechenden Mitbürger ausschreiben, käme er mit Sicherheit in die engere Wahl). Aufgrund des oben erwähnten Lärmproblems ist das Haus der Jacksons kein idealer Ort zum Lesen, Hausaufgaben machen oder sonst irgendeiner geistigen Arbeit nachzugehen; wird man in einem Zimmer allein mit einem Buch erwischt, gilt das manchmal als ausreichender Anlass, um einem die Fresse zu polieren.
Probleme 5 bis 10. Das Haus selbst bricht irgendwie zusammen – ein großer Teil der Regenrinne liegt im Vorgarten, und in manchen Zimmern tropft Wasser von der Decke; meistens ist auch mindestens eine der Toiletten verstopft,
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