Ich und Earl und das sterbende Mädchen: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
und niemand hat so richtig Lust, sich darum zu kümmern. Im Winter streikt im Allgemeinen die Heizung, und alle müssen in ihren Wintermänteln schlafen. Es gibt eindeutig ein Rattenproblem und ein Kakerlakenproblem, und Wasser aus der Leitung zu trinken ist keine gute Idee.
Die Videospiele hingegen sind cool.
Darum hängen Earl und ich, wenn wir uns treffen, eher bei mir herum. Earl ist inzwischen fast schon ein Familienmitglied: der kettenrauchende, vertikal benachteiligte Sohn, den meine Eltern nie hatten. Sie sind die einzigen Erwachsenen außer Mr. McCarthy, die überhaupt halbwegs mit ihm reden können, ohne ihn auf die Palme zu bringen. Betonung auf »halbwegs«. Ihr Umgang miteinander ist immer ein bisschen surreal.
INNEN . UNSER WOHNZIMMER – TAG
DAD sitzt in seinem Schaukelstuhl und betrachtet gedankenversunken die Wand, wie es seine Art ist. CAT STEVENS schläft auf der Couch. Eintritt E ARL auf dem Weg zur Haustür, der eine ungeöffnete Packung Zigaretten gegen seine Handfläche klatscht.
E ARL
Was macht das Leben, Mr. Gaines?
DAD
greift das Wort nachdenklich auf
Das Leben.
E ARL
geduldig
Was macht Ihr Leben?
DAD
Leben! Ja, das Leben. Das Leben ist gut, wie ich gerade auch zu Cat Stevens hier sagte. Was macht dein Leben?
E ARL
Läuft ganz okay.
DAD
Wie ich sehe, gehst du raus und machst eine Zigarettenpause.
E ARL
Ja. Wollen Sie mitkommen?
DAD
Fünf Sekunden rätselhaften Starrens
E ARL
Also dann.
DAD
Earl, findest du nicht auch, dass das Leiden im Leben eine …eine relative Vorstellung ist – dass jedes Leben eine eigene Balance hat, dass es eine individuelle Grenze gibt, unterhalb derer ein Mensch zu leiden beginnt?
E ARL
Ja, schätze schon.
DAD
Wobei die wichtigste Erkenntnis dabei ist, dass das Leiden des einen das Glück eines anderen bedeutet.
E ARL
Klingt gut, Mr. Gaines.
DAD
Na schön.
EARL
Dann geh ich mal eine von denen hier rauchen.
DAD
Viel Erfolg, junger Mann.
Etwa achtzig Prozent der Kommunikation zwischen Dad und Earl läuft so oder ähnlich ab. Manchmal nimmt Dad Earl mit zu einem seiner Feinkost- oder Bioläden, wo sie irgendwas unaussprechlich Ekelhaftes kaufen, das sie dann gemeinsam verzehren. Es ist ein bizarrer Anblick, und ich habe gelernt, mich davon fernzuhalten.
Die Unterhaltungen zwischen Mom und Earl sind einen Hauch weniger irre. Sie sagt ihm oft, er sei »zum Schreien komisch«, und sie hat auch kapiert, dass es nicht wirklich was bringt, ihn überzeugen zu wollen, mit dem Rauchen aufzuhören, und solange ich nicht rauche, erlaubt sie es ihm. Was ihn betrifft, so macht er selbst an einem mega-angepissten Tag halblang, wenn sie in der Nähe ist, und unterlässt auch alle seine typischen, mit den Wutausbrüchen einhergehenden Eigenheiten, zum Beispiel in rasendem Tempo mit den Füßen zu stampfen und die Konsonanten »grrr« zu knurrren. Er droht in ihrer Gegenwart nicht mal damit, jemanden in den Kopf zu treten.
Das also ist Earl. Ich habe wahrscheinlich einen ganzen Haufen ausgelassen und werde Earl später noch ausführlicher beschreiben müssen, aber es gibt auch keinen Grund zur Annahme, dass ihr dieses Buch dann noch lesen werdet, darum schätze ich mal, ihr braucht euch vorerst keine Gedanken um ihn zu machen.
Zehntes Kapitel – Als Casanova eine Katastrophe
Auf dem Weg zu Rachel wurde mir bewusst, dass ich gerade einen kolossalen Fehler gemacht hatte.
»Du Idiot, Greg«, dachte ich, und habe es möglicherweise auch gesagt. »Jetzt denkt sie, du wärst fünf Jahre lang in sie verliebt gewesen.«
Blödmann. Ich konnte mir die Szene lebhaft vorstellen: Ich würde bei ihr aufkreuzen und klingeln, dann würde Rachel die Tür aufreißen und mich umarmen, dass das krause Haar flatterte und die etwas großen Zähne über meine Wange schrammten. Dann würden wir rummachen oder darüber reden müssen, wie sehr wir uns liebten. Allein bei dem Gedanken brach mir der Schweiß aus.
Und außerdem hatte sie Krebs. Was, wenn sie über den Tod reden wollte? Das wäre ein Desaster, oder? Denn ich hatte, was das betraf, ziemlich radikale Ansichten: Es gibt kein Leben nach dem Tod, und nichts passiert, nachdem man gestorben ist, und er bedeutet schlicht das Ende deines Bewusstseins, ein für alle Mal. Würde ich lügen müssen? Denn das wäre ja definitiv viel zu deprimierend, oder? Würde ich mir aus Beruhigungszwecken irgendein Leben nach dem Tod für sie ausdenken müssen? Würde ich darin diese schaurigen nackten Babyengel einbauen
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