Ich und Earl und das sterbende Mädchen: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
Zeit Schularbeiten – unter dem wachsamen, irren Blick von Mr. McCarthy. Ich schätze, ich war sogar irgendwie dankbar, dass jemand anderes mein Leben übernahm. Ich meine, ich versage offensichtlich total darin, mein Leben selber zu managen, darum war es schön zu wissen, dass es in guten Händen war. Schön war aber auch, dass ich lauter konkrete Aufgaben zu erledigen hatte und von ihnen irgendwie abgelenkt und in Anspruch genommen wurde. Sie hinderten mich daran, über all die deprimierenden Dinge nachdenken zu müssen, die sich zu der Zeit abspielten.
Leider hinderten sie mich auch daran zu bemerken, dass Mom sich plötzlich abnorm verhielt.
Normal sind ihre lästigen Kontrollbesuche in meinem Zimmer mindestens einmal pro Stunde, wenn ich zu Hause bin.
Wollte nur mal sehen, wie es bei dir läuft
Wollte nur mal sehen, ob du bei irgendwas Hilfe brauchst
Wollte nur mal sagen, dass draußen wunderschönes Wetter ist und dir vielleicht ein bisschen Bewegung guttun würde
Wollte nur mal Bescheid sagen, dass ich zum Fitnesstraining gehe
Wollte nur mal Bescheid sagen, dass ich vom Fitnesstraining wieder da bin
Wollte dir nur mal sagen, dass Gretchen im Moment etwas schwierig ist, also bitte provoziere sie nicht
Wollte nur mal fragen, ob du Rinderlendchen zum Abendessen willst oder ob du auch Lamm isst, weil ich gerade zum Biomarkt wollte, aber ich habe vergessen, ob du Lamm überhaupt magst
Ich wollte dich nur mal was fragen, aber jetzt habe ich vergessen, was es war, darum frage ich einfach später noch mal, es sei denn, du weißt zufällig, was ich dich fragen wollte, was aber unwahrscheinlich ist, darum schau ich später noch mal rein, also, alles okay bei dir? Ja? Schätzchen, du musst das Licht anmachen, sonst verdirbst du dir die Augen
Ein paar Tage lang passierte nichts dergleichen – ein einmaliges, bisher nie dagewesenes Phänomen. Ich war nicht mehr so oft zu Hause, und wenn ich es war, blieben die Kontrollbesuche aus. Im Nachhinein gesehen hätte ich Verdacht schöpfen müssen, dass irgendwas im Busch war. Aber ich hatte viel zu tun; außerdem war ich wahrscheinlich unbewusst dankbar dafür, dass die nervigen Kontrollen vorübergehend aufgehört hatten, und wollte nicht riskieren, sie wieder anzufachen.
Der Hammer fiel in der achten Stunde.
Da finden normalerweise die sogenannten Pep Rallies statt – das sind Einpeitschveranstaltungen vor wichtigen Sportwettkämpfen, bei denen zumindest theoretisch Anwesenheitspflicht für die ganze Schule besteht. Normalerweise saßen wir stattdessen bei Mr. McCarthy im Büro, doch aus irgendeinem Grund bestand er darauf, dass wir unbedingt an dieser speziellen Pep Rally teilnahmen.
»Tut mir leid, Jungs«, sagte er, als er in der Tür stand und die Neuntklässler aus seiner Geschichtsklasse auf dem Flur herumwuselten wie kopflose Zweijährige. »Ich komm in Teufels Küche, wenn euch irgendjemand während der Pep Rally hier sieht.«
Also ließen wir unser Mittagessen auf seinem Schreibtisch liegen und zuckelten mit den Neuntklässlern Richtung Aula.
Bei den meisten Pep Rallies sitzen die Schlagzeuger von der Marschkapelle auf der Bühne und hauen irgendeinen monotonen Rhythmus raus, und vielleicht greifen sich ein paar von den mutigeren Sportlern das Mikro und versuchen sich in irgendwelchen improvisierten Sprüchen, bis die sexuellen Anspielungen zu deutlich werden oder ihnen versehentlich das F-W ort rausrutscht und der stellvertretende Schulleiter sie wieder von der Bühne scheucht. Heute stand da nur eine riesige Leinwand, und es waren weit und breit keine Trommler zu sehen, nur Direktor Stewart. Wir gehörten zu den Letzten, die kamen, und kaum hatten wir unter den Neuntklässlern Platz genommen, ging Direktor Stewart ans Mikrofon und begann seine Rede.
Direktor Stewart ist ein hünenhafter, angsteinflößender Schwarzer. Man kann es nicht anders formulieren. Er ist extrem autoritär, und sein üblicher Gesichtsausdruck ist wie der von Earl: angepisst. Er hatte mich noch nie direkt angesprochen, und ich hoffte, dass wir es bis zu meinem Abschluss auch so halten würden.
Seine Sprechweise ist schwer zu beschreiben. Alles, was er sagt, hat diesen wütenden Unterton, selbst wenn es gar keinen Grund dazu gibt, und er macht viele Pausen. In diesem Moment klang er eindeutig angepisst.
»Schüler und Lehrer. Der Benson Highschool. Willkommen bei dieser Pep Rally. Wir sind heute hier. Um die Trojans anzufeuern. Zu ihrem sicheren Sieg über Allderdice. Heute Abend
Weitere Kostenlose Bücher