Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich Und Kaminski

Ich Und Kaminski

Titel: Ich Und Kaminski Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Kehlmann
Vom Netzwerk:
nach Salz. Hier war Kaminski vor fünfzig Jahren verlorengegangen.
    Der Führer öffnete eine Stahltür, wir bogen um die Ecke. Angeblich hatte es an seinen Augen gelegen, ich schloß für einen Moment die meinen und tastete mich blind vorwärts. Die Szene war wichtig für mein Buch: Ich stellte mir vor, ich wäre Kaminski, vorantappend, blinzelnd, tastend, rufend, schließlich stehenbleibend und so lange schreiend, bis ich erkannte, daß niemand mich hören würde. Ich mußte die Episode stark ausmalen, so drastisch wie möglich, ich brauchte Vorabdrucke in den großen Illustrierten. Irgendein Idiot rempelte mich an, ich murmelte ein Schimpfwort, er tat das gleiche, ein anderer streifte meinen Ellenbogen, es war doch erstaunlich, wie unachtsam sich die Leute benahmen, aber ich widerstand der Versuchung, die Augen zu öffnen. Ich mußte unbedingt das Echo seiner Stimme in der Stille beschreiben, das machte sich gut. »Das Echo in der Stille«, sagte ich leise. Ich hörte, daß sie nach links abbogen. Ich ließ die Wand los, machte vorsichtig ein paar Schritte, fand die Wand auf der anderen Seite und folgte ihnen. Den Stimmen nach: Allmählich bekam ich ein Gefühl dafür. Eine Tür fiel zu, der Reflex ließ mich die Augen öffnen. Ich war allein.
    Ein kurzer Gang, erhellt von drei Lampen. Ich war überrascht, daß die Tür mehr als zehn Meter entfernt war, es hatte so nahe geklungen. Schnell ging ich auf sie zu und öffnete. Lampen auch hier, an der niedrigen Decke liefen Metallrohre entlang. Keine Menschen.
    Ich ging zurück ans andere Ende des Ganges. Also waren sie doch nach rechts gegangen, und ich hatte mich verhört. Mein Atem stieg in kleinen Wölkchen auf. Ich erreichte die Tür, sie war abgeschlossen.
    Ich wischte mir die Stirn ab, trotz der Kälte wurde mir heiß. Dann also zurück. Zur Abzweigung und wieder nach links, woher wir gekommen waren. Ich blieb stehen, hielt den Atem an, horchte: keine Stimmen. Nichts. Ich hatte noch nie so eine Stille gehört. Ich ging schnell den Gang entlang, bei der nächsten Abzweigung stockte ich. Wir waren von rechts gekommen? Aber ja, von rechts. Also nun nach links. Die Stahltür ließ sich ohne Widerstand öffnen. Lampen, Rohre, wieder eine Verzweigung, kein Mensch zu sehen. Ich hatte mich verirrt.
    Ich mußte lachen.
    Ich ging zurück zur letzten Abzweigung und bog links ab. Wieder eine Tür, aber im Gang dahinter war kein Licht, er war erfüllt von einer Dunkelheit, wie es sie an der Erdoberfläche nicht gab, erschrocken schlug ich die Tür zu. Sicher würde bald die nächste Gruppe durchgeschleust werden, außerdem mußten hier Arbeiter sein, die Mine war schließlich noch in Betrieb. Ich lauschte. Ich räusperte mich und rief; es überraschte mich, daß es kein Echo gab. Der Stein schien meine Stimme zu schlucken.
    Ich bog rechts ab, ging durch eine, zwei, drei Türen geradeaus, die vierte war abgeschlossen. Das mußte mit Logik zu lösen sein! Ich wandte mich nach links, ging durch zwei Stahltüren und stand an einer Kreuzung. Die Türen, hatte der Führer gesagt, waren da, um einen Sog zu verhindern, wenn Feuer ausbrach; ohne sie konnte eine einzige Flamme die Luft der ganzen Mine an sich ziehen. Ob es Brandmelder gab? Einen Moment spielte ich mit dem Gedanken, etwas anzuzünden. Aber ich hatte nichts Brennbares, selbst die Zigaretten waren mir ausgegangen.
    Mir fiel auf, daß an den Rohren winzige Tropfen Kondenswasser hingen. War das normal? Ich probierte zwei Türen, die eine war versperrt, die andere führte in einen Gang, wo ich schon gewesen war. Oder? Ich hätte gerne eine Zigarette gehabt. Ich setzte mich auf den Boden.
    Jemand würde kommen, würde bald kommen, ganz ohne Zweifel. Die Anlage konnte unmöglich so groß sein. Ob sie nachts das Licht ausschalteten? Der Boden war eiskalt, ich konnte nicht sitzen bleiben. Ich stand auf. Ich rief. Ich rief lauter. Mir wurde klar, daß das nichts nützte. Ich schrie, bis ich heiser war.
    Ich setzte mich wieder hin. Ein sinnloser Einfall ließ mich das Mobiltelefon hervorholen, aber natürlich gab es keinen Empfang, nirgendwo war man so abgeschirmt wie in einem Salzbergwerk. Schwer zu entscheiden: War das bloß eine peinliche Lage, oder bestand Gefahr? Ich lehnte den Kopf an die Wand, für eine Sekunde glaubte ich, eine Spinne zu sehen, aber es war nur ein Fleck, hier unten gab es keine Insekten. Ich sah auf die Uhr, es war schon eine Stunde vergangen, als liefe die Zeit hier schneller oder mein Leben langsamer,

Weitere Kostenlose Bücher