Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich Und Kaminski

Ich Und Kaminski

Titel: Ich Und Kaminski Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Kehlmann
Vom Netzwerk:
vielleicht ging auch nur die Uhr falsch. Sollte ich weitergehen oder hier warten? Ich war plötzlich müde. Ich schloß, für einen Moment nur, die Augen.
    Ich betrachtete die Adern im Stein. Sie liefen aufeinander zu, vereinten sich, aber kreuzten sich nie, wie die Arme eines Flusses. Ein unendlich langsamer Salzstrom durch die Tiefen der Welt. Ich durfte nicht einschlafen, dachte ich, dann war mir, als ob Stimmen zu mir sprachen, denen ich antwortete, irgendwo spielte ein Klavier, und dann saß ich in einem Flugzeug und sah auf weite, leuchtende Landschaften: Berge, Städte und ein fernes Meer, Menschen gingen vorbei, ein Kind lachte, ich sah auf die Uhr, doch meine Augen stellten das Bild nicht scharf. Das Aufstehen fiel mir schwer, mein Körper war klamm vor Kälte. Die Stahltür öffnete sich, ich ging hindurch, stand in Elkes Wohnzimmer und wußte, daß ich endlich erwartet wurde. Sie trat auf mich zu, vor Freude breitete ich die Arme aus und öffnete die Augen, ich saß auf dem Boden, unter den feuchten Rohren, im gelben Licht der Grubenlampen, allein.
    Es war kurz nach sechs. Ich war schon zwei Stunden hier. Ich zitterte vor Kälte. Ich stand auf, trat von einem Fuß auf den anderen und klatschte in die Hände. Ich ging zum Ende des Stollens, bog rechts, links, rechts und wieder links ab. Ich blieb stehen und preßte die Hände an den Stein.
    Wie massiv er sich anfühlte. Ich lehnte die Stirn dagegen und versuchte, mich an den Gedanken zu gewöhnen, daß ich sterben würde. Sollte ich etwas aufschreiben, eine letzte Nachricht für - wen eigentlich? Ich sank in die Knie, eine Hand schlug mir auf die Schulter. Ein schnurrbärtiger Führer und hinter ihm ein Dutzend Menschen mit Helmen, Fotoapparaten, Videokameras. »Monsieur, qu'est-ce que vous faites là?«
    Ich stand auf, murmelte etwas, wischte mir die Tränen ab und reihte mich unter die Touristen ein. Zwei Japaner betrachteten mich neugierig, der Führer öffnete eine Tür: Stimmengewirr schwappte mir entgegen, der Stollen war voller Menschen. An einem Souvenirstand wurden Ansichtskarten, Salzsteine und Dias milchiger Salzseen verkauft. Ein Exit- Schild wies zu einer Treppe, wenige Minuten später trug der Förderkorb mich rasselnd nach oben.
    »Sie sollten doch erst morgen kommen!«
    Ich hob den Kopf. Miriam Kaminskis Silhouette ragte sonnenumrahmt vor mir auf. In ihren schwarzen Haaren lagen feine Linien aus Licht.
    »Ich wollte nur guten Tag sagen.«
    »Guten Tag. Ich fahre in einer Stunde und komme morgen zurück.«
    »Ich hatte gehofft, ich könnte mit Ihrem Vater sprechen.«
    Sie sah mich an, als hätte sie nicht richtig gehört. »Mein Vater fühlt sich nicht wohl. Gehen Sie doch spazieren, Herr Zöllner. Wandern Sie ein wenig. Das lohnt sich.«
    »Wohin fahren Sie?«
    »Wir gründen eine Kaminski-Stiftung. Ich erkläre Ihnen gern die Einzelheiten, das könnte interessant für Ihr Buch sein.«
    »Ganz sicher.« Ich hatte verstanden: Solange sie da war, würde ich nicht allein mit ihm sprechen können. Ich nickte langsam, sie wich meinem Blick aus. Natürlich hatte ich eine gewisse Wirkung auf sie. Wer weiß, wäre ich nicht jemand gewesen, den sie für gefährlich hielt... Aber da war nichts zu machen. Ich stand auf. »Dann gehe ich also wandern.«
    Ich ging schnell ins Haus, ich mußte unbedingt vermeiden, daß sie mich hinausbegleitete. Durch die angelehnte Küchentür war das Klappern von Geschirr zu hören. Ich sah durch den Spalt, Anna wusch gerade Teller ab.
    Als ich hereinkam, sah sie mich ausdruckslos an. Ihre Haare waren zu einem dicken Zopf geknotet, ihre Schürze war schmutzig, ihr Gesicht rund wie ein Wagenrad.
    »Anna!« sagte ich. »Ich darf doch Anna sagen?«
    Sie zuckte mit den Schultern.
    »Ich bin Sebastian. Sagen Sie Sebastian zu mir. Das Essen gestern war wunderbar. Können wir reden?«
    Sie antwortete nicht. Ich zog einen Stuhl heran, schob ihn wieder weg und setzte mich auf den Küchentisch. »Anna, gibt es etwas, das Sie tun wollen?«
    Sie starrte mich an.
    »Ich meine, das... könnten Sie heute tun. Nicht wahr?«
    Vor dem Fenster sah ich den Bankier, der gestern bei dem Abendessen gewesen war, aus dem Nachbarhaus kommen. Er ging über den Parkplatz, nestelte seinen Schlüssel aus der Tasche, öffnete die Tür eines Autos und stieg umständlich ein.
    »Ich will es anders sagen. Was auch immer Sie heute machen wollen, würde ich Ihnen... Nein, lassen Sie es mich so versuchen...!«
    »Zweihundert«, sagte sie.
    »Was?«
    »Wie

Weitere Kostenlose Bücher