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Ich Und Kaminski

Ich Und Kaminski

Titel: Ich Und Kaminski Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Kehlmann
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letzte Matisse-Schüler, erklärte ich, ein Vertreter der klassischen... Mit so etwas befasse er sich nicht, unterbrach er, sondern mit Gegenwartskunst aus dem Alpenraum. Da gebe es sehr spannende Tendenzen, etwa Gamraunig, dann natürlich Göschl und Wagreiner. Wen? Wagreiner, rief er, und sein Gesicht rötete sich. Den müsse man aber kennen! Der male jetzt nur noch mit Milch und eßbaren Substanzen. Warum, fragte ich. Er nickte, die Frage war ihm willkommen: wegen Nietzsche.
    Besorgt trat ich einen Schritt zurück. Ich fragte, ob Wagreiner Neodadaist sei. Er schüttelte den Kopf. Oder Performancekünstler? Nein, sagte er, nein, nein. Ob ich denn wirklich nicht von Wagreiner gehört hätte? Ich schüttelte den Kopf. Er murmelte etwas Unverständliches, wir sahen uns mißtrauisch an. Dann trennten wir uns.
    Ich ging in die Pension, packte meinen Koffer und beglich die Rechnung. Morgen würde ich einfach wiederkommen, es gab keinen Grund, für eine Nacht zu bezahlen, in der ich nicht da sein würde. Ich nickte der Wirtin zu, warf meine Zigarette weg, fand den Fußweg und stieg hinauf. Ich brauchte kein Taxi, inzwischen fiel es mir leicht; obwohl ich den Koffer trug, war ich schon kurz darauf bei dem Wegweiser. Die Straße aufwärts, die erste, zweite, dritte Serpentine, der Parkplatz. Vor dem Gartentor stand immer noch der graue BMW. Ich klingelte, Anna öffnete sofort.
    »Niemand zu Hause?« fragte ich.
    »Nur er.«
    »Warum ist das Auto noch hier?«
    »Sie hat den Zug genommen.«
    Ich sah ihr fest in die Augen. »Ich komme, weil ich meine Tasche vergessen habe.«
    Sie nickte, ging hinein und ließ die Tür offen. Ich folgte ihr.
    »Meine Schwester hat angerufen«, sagte sie.
    »Wirklich!«
    »Sie braucht Hilfe.«
    »Wenn Sie gehen wollen, kann ich bei ihm bleiben.«
    Sie musterte mich ein paar Sekunden. »Das wäre nett.«
    »Ist doch selbstverständlich.«
    Sie strich ihren Kittel glatt, bückte sich und hob eine voll gepackte Reisetasche auf. Sie ging zur Tür, zögerte und sah mich fragend an.
    »Keine Sorge!« sagte ich leise.
    Sie nickte. Sie atmete hörbar ein und aus, dann schloß sie die Tür hinter sich. Durch das Küchenfenster sah ich sie mit kleinen, schweren Schritten über den Parkplatz gehen. Die Tasche pendelte in ihrer Hand.

VI
    Ich stand im Flur und horchte. Links von mir war die Eingangstür, rechts das Eßzimmer, vor mir der Treppenaufgang zum ersten Stock. Ich räusperte mich, meine Stimme klang merkwürdig in der Stille.
    Ich ging ins Eßzimmer. Die Fenster waren geschlossen, die Luft war abgestanden. Eine Fliege schlug gegen die Scheibe. Ich öffnete vorsichtig die oberste Schublade der Kommode: Tischdecken, säuberlich gefaltet. Die nächste: Messer, Gabeln und Löffel. Und die unterste: zwanzig Jahre alte Zeitschriften, Life, Time und Paris-Match, ohne System durcheinandergemischt. Das alte Holz widersetzte sich; fast hätte ich es nicht geschafft, die Lade zu schließen. Ich ging zurück in den Flur.
    Zu meiner Linken waren vier Türen. Ich öffnete die erste: ein kleiner Raum mit Bett, Tisch und Stuhl, einem Fernseher, einem Marienbild und einem Foto des jungen Marlon Brando. Das mußte Annas Zimmer sein. Hinter der nächsten Tür war die Küche, danach kam der Raum, in dem ich gestern empfangen worden war. Hinter der letzten ein Treppenabgang.
    Ich nahm meine Tasche und tastete nach dem Lichtschalter. Eine einzelne Glühbirne warf schmutziges Licht auf eine Holzstiege. Die Stufen knarrten, es ging so steil hinunter, daß ich mich am Geländer festhalten mußte. Ich machte Licht, Scheinwerfer schalteten sich knackend ein, ich kniff die Augen zusammen. Als ich mich an die Helligkeit gewöhnt hatte, wurde mir klar, daß ich in einem Atelier stand.
    Ein fensterloser, nur von vier Scheinwerfern beleuchteter Raum: Wer immer hier gearbeitet hatte, hatte kein natürliches Licht gebraucht. In der Mitte stand eine Staffelei mit einem angefangenen Bild, über den Boden waren Dutzende Pinsel verstreut. Ich bückte mich und befühlte sie, alle waren trocken.
    Da war auch eine Palette, die Farben darauf waren steinhart und rissig. Ich sog die Luft ein: normaler Kellergeruch, ein wenig feucht, ein schwaches Aroma von Mottenkugeln, nichts von Farben oder Terpentin. Hier war lange nicht gemalt worden.
    Die Leinwand auf der Staffelei war fast unberührt, nur drei Pinselstriche durchschnitten ihr Weiß. Sie begannen in demselben Fleck links unten und liefen von dort auseinander, rechts oben war ein

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