Ich vergebe dir - Bucciarelli, E: Ich vergebe dir - Io ti perdono
Mutter durchgebrannt sein.«
»Ihrem zukünftigen Arbeitgeber also.«
»Nicht unbedingt. Du bist immer so zynisch. Vielleicht sind sie ja tatsächlich aus Liebe abgehauen?«, grinste er.
»Ja, klar. Und das andere Mädchen?«
»1978 war sie achtzehn und zog als Sängerin durch Mailands Spelunken. Ganz plötzlich verschwand sie, wie vom Erdboden verschluckt.«
»Name?«
»Loredana Campi, Künstlername Lolli. Zu ihrer Band gehörte ein humpelnder Gitarrist, Guio di Maggio, genannt Guglielmo Maggioni, und ein alkoholkranker Saxophonist. Steht alles hier. Mit den persönlichen Daten und den Adressen von damals.« Er legte die Mappe mit den Unterlagen auf ihren Schreibtisch.
»Wie alt sind sie jetzt, warte mal, lass mich rechnen. So um die sechzig. Dann leben sie wahrscheinlich noch.«
»Einer ja, Guio di Maggio. Der andere nicht. Leberzirrhose.«
»Den übernehme ich, wenn es dir nichts ausmacht.«
»Wie du willst. Ich verfolge dann also die Spur der verschwundenen Prostituierten. Damit wir nichts unversucht lassen.«
»Die Gebeine, die wir gefunden haben, sind sehr filigran und stammen von einer schmalen, circa ein Meter siebzig großen Person, wenn dir das irgendwie nützt«, erwähnte Maria Dolores beiläufig. »Unwahrscheinlich, dass sie von einer Albanerin stammen, aber nicht auszuschließen.«
Dann schaute sie sich die Fotos von Lolli an. Besonders an einem, bereits vergilbten, blieb ihr Blick länger haften. Darauf war ein schlankes, hübsches Mädchen mit Mikrofon in der Hand abgebildet. Im Hintergrund der Bühne die beiden Musiker vor einem halb verdeckten Schriftzug: Trattoria M.
26
»Vater, vergeben Sie mir. Ich habe schwer gesündigt.
Ihre Haare waren so fein, ihr Lächeln so zart. Ich konnte nicht einmal unterscheiden, ob es ein Lächeln oder ein Weinen war, ob Verlangen oder Angst. Aber sie war ganz alleine. Alleine, verstehen Sie? Sich selbst überlassen, vor dieser angelehnten Tür. Man konnte die Mutter drinnen am Telefon hören. Sie lachte laut, vulgär und schrill. Und sie, die kleine Kreatur, alleine da draußen. Über eine Ameise, einen Marienkäfer, eine grüne Heuschrecke gebeugt. Ihre Händchen. Ihre Beinchen. Ihre baumelnden Zöpfchen.
Ich habe einfach meinen Arm nach ihr ausgestreckt, und sie ist mir gefolgt.
Vater, warum nur wird einer Frau ein Kind geschenkt, die ihrer Rolle als Mutter unwürdig ist? Einer geilen Frau, gewöhnlich und weniger wert als eine Nutte, die unfähig ist, ihren Sprössling zu behüten? Vater, ich spüre, dass ich dazu auserkoren bin, mich um sie alle zu kümmern. Befreien Sie mich von diesem Fluch. Denn wenn ich sie erst bei mir habe, werden sie selbst wie jene Kreaturen, die sie gezeugt haben. Zu nichts zu gebrauchen. Anstrengend, lästig, aufdringlich. Sie weinen in einem fort, Vater, und geben keine Ruhe mehr.
Ich habe gesündigt. Ich habe schwer gesündigt, in Worten und Taten. Habe geschändet. Die Reinheit geliebt. Ich hoffe auf Ihre Vergebung, und ich weiß, Sie werden sie mir nicht verwehren.«
27
Verschmelzung zweier Menschen. Rauch in den Augen. Große Hände. Warme Stimme. Halb geschlossene Augenlider. Die Kopfhaltung. Der Abstand zwischen Ohren und Hals. Die Stirn. Die Nase. Der Geruch der Haare. Die Beine. Der Gang. Die Art aufzublicken. Ganz unerwartet. Ihre Blicke treffen sich. Sie hält ihm nur für wenige Sekunden stand. Schaut weg. Schüttelt ihre rabenschwarzen Haare, die ihr bis zur Mitte des Rückens reichen. Weiche, glatte Haare, die schwer herabfallen. Haare zum Streicheln, in denen man sich verlieren kann. Schon seit einer ganzen Weile schaute sie nicht mehr. Sprach nicht mit ihm. Grenzte sich ab. Sie tauchte auf und verschwand wieder. Er suchte ihre Nähe. Jeden Abend, um die gleiche Uhrzeit. Versuchte, sie abzupassen, während er darauf wartete, zu einem Einsatz auszurücken oder auf neue Anweisungen. Er setzt sich. Zündet sich eine Zigarette an und schaltet den Computer ein. Wartet eine Ewigkeit. Darauf, dass die Kinder schlafen. Dass seine Frau zu Bett geht. Er öffnet eine Unmenge an Mails. Gibt Versprechen und hält sie auch. Schiebt die Einsamkeit von sich. Nur für ein paar Minuten. Die Asche seiner brennenden Zigarette fällt auf die Tastatur, und er bekommt sie nur mit Mühe wieder sauber. Dann fasst er einen Entschluss, nimmt das Telefon und ruft sie an. Hauptkommissarin Vergani hob immer ab. Eine Berufskrankheit.
Righi: »Hallo.«
Maria Dolores: »Hallo.«
Righi: »Ich ersticke fast.«
Maria Dolores: »Ich
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