Ich vergebe dir - Bucciarelli, E: Ich vergebe dir - Io ti perdono
noch etwas erahnen, was Maria Dolores nicht übersehen konnte. Eine Wirkung, der man sich nicht entziehen konnte. Guio drehte sich um und suchte sich einen anderen Sitzplatz. Er wählte das Sofa, legte die Alben neben sich und blätterte sie durch.
»Da ist es.« Er drehte das Foto zur Kommissarin. »Das ist sie.«
31
Luca Righi: »Wie alt bist du nun eigentlich genau?«
Maria Dolores: »Was geht dich das an? Wieso fragst du das andauernd?«
Luca Righi: »Weil du dich strikt weigerst, es mir zu sagen, deswegen.«
Maria Dolores: »Mich interessiert dein Alter auch nicht.«
Luca Righi: »Ich bin älter als du, das ist ganz klar, und du jünger, das weiß ich. Aber wie viele Jahre jünger? Wenn der Altersabstand zu groß ist, lasse ich dich in Frieden.«
Maria Dolores: »Er ist nicht sehr groß.«
Luca Righi: »Wie kann eine intelligente Frau wie du sich nur so dagegen wehren, ihr Alter zu sagen?«
Maria Dolores: »Unser Telefon klingelte zu jeder Tages- und Nachtzeit. Immer wurde nach meinem Vater verlangt. Sonderbare Fragen wurden gestellt. Wann verlässt er morgens das Haus? Welchen Weg nimmt er? Wann kommt er abends zurück? Schwierige Fragen, zumindest für ein zwölfjähriges Mädchen. Ich versuchte sie so gut wie möglich zu beantworten, aber als ich dann meiner Mutter davon erzählte, sah ich, wie sich ihr Gesichtsausdruck veränderte. Wie sie erbleichte. Sie musste sich setzen. In jenen Jahren habe ich gelernt, die Zeichen der Angst zu lesen. Dieses beständige, lähmende Gefühl. Ich war angewiesen worden, niemals auf irgendetwas zu antworten, niemals auch nur irgendetwas zu sagen. Aber ich war neugierig und verantwortungslos. Ich schwatzte drauflos. Erzählte. »Wie schlau du bist«, säuselte die Frau am anderen Ende der Leitung. Bis die Polizei uns abhörte und meinen Eltern berichtete, was alles aus meinem Mund heraussprudelte. Für eine Zeit lang schlief mein Vater nicht mehr zu Hause.«
Luca Righi: »War die Frau etwa eine Terroristin?«
Maria Dolores: »Zumindest eine Sympathisantin, glaube ich.«
Luca Righi: »Arme Kleine.«
Maria Dolores: »Ich sage nie mein Alter. Und das ist der Grund dafür. Ich sage überhaupt so wenig wie möglich. Immer.«
Luca Righi: »Du sagst nicht die eigentlich wichtigen Dinge. Aber das macht nichts.«
Maria Dolores: »Warum suchst du dann meine Nähe?«
Luca Righi: »Weil ich etwas Tiefes fühle, etwas, das ein durchschnittlicher Mann wie ich noch nie empfunden hat. Ich weiß nicht, Maria Dolores, aber ich werde nur schwer wieder von dir loskommen.«
32
Alle zwei Wochen, immer sonntags, versammelten sie sich im Pfarrhaus. Sie bildeten einen Sitzkreis, wie bei jeder beliebigen Selbsthilfegruppe.
An den Wänden hingen Zeichnungen. Engel. Gebete. Und Fotos lachender Kinder. Im Gemeindesaal, bei Ausflügen.
Don Paolo: »Das ist Maria Dolores Vergani, eine befreundete Psychologin. Sie möchte sich gerne mit euch unterhalten.« Als Einleitung für seine Verhältnisse schon das höchste der Gefühle.
Eine kurze Vorstellungsrunde. »Ich bin Maura, die Mutter von Paolo.« »Ich bin Franco, der Vater von Antonio.« »Schön, Sie kennen zu lernen, ich bin Giovanna, die Mutter von Ariel.« »Mein Name ist Cesare, der Vater von Beatrice.« »Und wir heißen Claudio und Sara, die Eltern von Fabio.« »Hallo, ich bin Maria, die Mutter von Samuele.« »Wir kennen uns bereits, ich bin Davide, der Vater von Arianna.«
»Ihre Frau ist nicht mitgekommen?«, fragte Maria Dolores.
»Sie kann sich nicht mal mehr auf ihren Beinen halten. Isst nicht, schläft nicht.«
»Sag ihr, Arianna wird ganz bestimmt zurückkommen.« Die tröstenden Worte kamen von einer der Frauen.
»Du musst mit deinen Erkundungen im Wald aufhören: Du könntest sie damit in Gefahr bringen, solange sie nicht frei ist«, sagte einer der Männer zu seinem Gegenüber, der in seiner Jägerkleidung einem Märchenbuch entstiegen zu sein schien.
»Welche Erkundungen denn?«, kam die prompte Frage der Hauptkommissarin.
»Wir versuchen, ihn selbst zu finden«, antwortete der Jäger. »Was denken Sie denn? Das sind schließlich unsere Kinder und unsere Wälder. Wir werden ihn kaltmachen.« In Anbetracht des fünften Gebotes fiel seine Wut etwas verhaltener aus als beabsichtigt.
»Aber wieso habt ihr euch dann gegen juristische Schritte entschieden?«, fragte Maria Dolores.
Eine noch sehr junge Mutter ergriff mit ernster Miene das Wort: »Ariel, meine Tochter, ist zwei. Sie ist verschwunden, nachdem sie
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