Ich vergebe dir - Bucciarelli, E: Ich vergebe dir - Io ti perdono
gerade laufen gelernt hatte. Sie saß auf der Wiese vor einem Restaurant und spielte. Ich musste auf die Toilette, und anstatt sie mitzunehmen, habe ich ihr gesagt, sie solle sich nicht vom Fleck rühren und auf mich warten. Es waren viele Leute unterwegs, und es war ein wunderbar warmer Tag. Ich kam nicht auf die Idee, dass etwas passieren könnte. Ich kann nur wenige Minuten fort gewesen sein. Und dann war sie auf einmal weg … verschwunden.« Sie verstummte.
Ein Vater begann zu sprechen: »Ich wollte dem Polizeibeamten ja sagen, was Beatrice alles angetan wurde. Aber meine Frau war dagegen. Sie ist davon überzeugt, dass unsere Tochter alles vergessen wird. Wenn wir zur Anzeige bringen, was die Kinder ertragen mussten, werden alle davon erfahren, und meine Tochter wird ihr Leben lang damit konfrontiert werden. Sie wird für alle Zeiten das Mädchen bleiben, das entführt wurde, das … Verstehen Sie? Don Paolo ist derselben Meinung.«
Maria Dolores hörte zunächst schweigend zu. Dann fragte sie: »Hat eines der Kinder darüber gesprochen, was geschehen ist?« Alle schüttelten die Köpfe. Stille.
Eine andere Mutter durchbrach das Schweigen: »Das muss ein Irrer sein. Er behandelt sie wie Spielzeug. Wenn er sie laufen lässt, sind sie frisiert, geschminkt und gekleidet wie Püppchen.« Eine weitere Mutter schaltete sich ein: »Ja, aber die Haut ist übersät von Wundmalen: lilafarbene Blutergüsse an Handgelenken und Knöcheln von Fesseln. Schultern und Po sind bedeckt von bläulichen Bisswunden und anderen …« Sie stützte sich auf die Schulter ihres Mannes, der neben ihr saß.
Wieder ergriff der Jäger das Wort: »Aber das Schlimmste kommt erst nach einigen Monaten zu Tage. Antonio, mein Sohn, schläft nicht mehr. Er wacht nachts schreiend auf. Macht ins Bett. Ich bleibe bei ihm sitzen, aber er lässt sich nicht beruhigen.« Er unterbrach sich und seufzte tief.
»Und ihr wollt nicht, dass der Täter für sein Tun bestraft wird?« Maria Dolores ließ nicht locker.
»Bestraft?«, fragte der Jäger. »Gibt es denn Ihrer Meinung nach eine angemessene Strafe? Oder eine Garantie dafür, dass er wirklich aufhört?«
»Wir wollen ihn tot sehen«, die Worte der Frau klangen wie ein endgültiges Urteil, dem die anderen heftig nickend zustimmten.
Maria Dolores starrte sie wortlos an. Dann bemerkte sie, dass sie ihr etwas sagen wollten. Sie tuschelten untereinander, blickten sie an. Schließlich ergriff Davide, der Vater von Arianna, die Initiative: »Das Einzige, was wir von diesem Irren wissen, ist, dass er einen Hund hat. Wir haben ihn im Wald gesehen, bevor meine Tochter verschwunden ist. Und wir sind nicht die Einzigen.«
33
Empfindsam. Ein offenes Lachen. Gebürtig aus der Gegend, aber dennoch weltoffen. Dazu helle Augen, die dank der Literatur über die Berge hinwegsahen. So war Margot. Single. Eine von vielen. Zufall, Versagen, freie Entscheidung? Mutig , dachte Maria Dolores. Auch sie spielte manchmal mit dem Gedanken und listete dabei alle Vorteile auf: Keine Verpflichtungen.
Immer eine heruntergelassene Klobrille.
Niemand, dem man Rechenschaft schuldete.
Ein großes Bett ganz für sich alleine.
Reden nur, wenn man Lust darauf hatte.
Nur im äußersten Notfall bügeln.
Entscheidungsfreiheit.
In letzter Minute alles über den Haufen werfen können. Keinerlei Druck, immer perfekt zu sein.
Nur eigene Ängste.
Keine zusätzliche Last von jemand anderem.
Abstand.
Schluss.
Aus.
Ende.
Maria Dolores betrat die Buchhandlung. Ein weiter Raum mit Fenstern, die den Blick auf die Berge freigaben. Als Untermalung das Rauschen des Flusses und der lokale Dialekt zweier einheimischer Frauen, die Schulbücher für ihre Kinder kauften. Die Buchhändlerin sah sie und lächelte ihr zu.
»Auf Stippvisite?«
Maria Dolores nickte. Sie umarmten sich.
»Was gibt’s Neues?«, fragte Margot sie dann.
»Sag du mir lieber, was hier so los ist.« Maria Dolores schob einige frisch eingetroffene Bücher in teurem Einband auf die Seite.
»Absolut nichts. Und wenn es so weitergeht, dann mache ich den Laden dicht«, antwortete Margot fast lachend.
»Das sagst du jedes Mal. Und dann besinnst du dich eines Besseren und machst brav weiter.« Maria Dolores ließ ihren Blick über den endlosen Werbeschnickschnack gleiten, der für das Überleben der Buchhandlung sorgte. Flauschige Stofftierchen, Täschchen, Stifte, Spitzer, Lesezeichen, Klemmleuchten für Bücher.
»Wegen der Sache mit den Kindern …Was erzählt man
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