Ich vergebe dir - Bucciarelli, E: Ich vergebe dir - Io ti perdono
Dolores streckte ihm den Brief entgegen, und der Mann griff danach. Ohne Eile. Man konnte sehen, dass er darin nichts Merkwürdiges erwartete. Er begann ihn zusammenzufalten, ohne ihn gelesen zu haben, als die Kommissarin ihn dabei unterbrach: »Sie sollten einen Blick darauf werfen, bevor Sie ihn beiseitelegen.«
»Ach ja, entschuldigen Sie.« Er wirkte etwas verlegen, ertappt worden zu sein, und warf einen flüchtigen Blick auf die klare Handschrift des Priesters. »Was genau hat er Ihnen denn gesagt?«, fragte er fast beiläufig, die Augen noch immer auf das Schriftstück geheftet.
»Soll das etwa ein Verhör sein?«, war ihre prompte Antwort, und sie brachte ihn damit erneut in Verlegenheit.
»Denken Sie denn, das wäre notwendig?«
»Ich meine ja. Ich stehe Ihnen jederzeit zur Verfügung. Jetzt allerdings muss ich unbedingt nach Mailand zurück. Lassen Sie uns später miteinander telefonieren, und wenn Sie wollen, komme ich bei Ihnen vorbei. Ich empfehle Ihnen, eine Schriftexpertise anfertigen zu lassen und weitere Ermittlungen durchzuführen. Schicken Sie mir doch bitte ein Fax, sobald Sie wieder im Büro sind. Ich würde ihn gerne noch einmal lesen.« Sie hatte den für sie typischen, belehrenden Ton angeschlagen.
»Sobald ich kann, das verspreche ich Ihnen.« Er gab ihr die Hand mit einem sarkastischen Grinsen, dann ging er zum Auto, das einige Meter von der Kirche entfernt parkte und in dem der Fahrer ihn bereits erwartete.
Maria Dolores blickte ihm hinterher. Dann ging sie ins Pfarrhaus zur Haushälterin: »Ich muss mit Ihnen sprechen.« Sie gab ihr ein Zeichen, sich an den Tisch von Don Paolo zu setzen.
»Was wissen Sie über die vergangenen zwei Tage?«
Einen Bewohner des Aostatals zum Sprechen zu bringen war ein schwieriges Unterfangen, aber die Frau kannte Maria Dolores, die einen so katholischen Namen trug, und ließ sich nicht lange bitten: »Don Paolo war nervös. Konnte keine Sekunde still halten. Das Essen hat er nicht einmal angerührt, sogar die Polenta, die er sonst so gerne mag und normalerweise bis auf den letzten Rest aufisst.«
»Hat er Ihnen den Grund dafür genannt?«
»Er hat generell nicht viel gesprochen. Aber letzten Sonntag, während der Elf-Uhr-Messe, hat er wutentbrannt von der Kanzel herabgepredigt, als würde Gott selbst über uns richten. Er sagte, die Vergebung unseres Herrn Jesus Christus sei nicht bedingungslos. Immer wieder dieselben Sünden zu begehen würde uns die ewige Verdammnis einbringen. Er war immer so ruhig und besonnen gewesen, außer am letzten Sonntag, da schien er wie vom Teufel besessen.«
»Das war ein Tag vor dem Tod von Ariannas Mutter, richtig?«
»Ja.«
»Wie hat Don Paolo darauf reagiert?«
»Das können Sie sich vorstellen. Er ist für die Krankensalbung zu ihr in die Klinik gefahren und dann hat er den ganzen Tag über gebetet, ohne zu essen.«
Er betete für alle, aber für eine Person ganz besonders , dachte Maria Dolores. Für eine Person, die größeres Glück gehabt hatte als alle anderen; die, dank der Fürsprache dieses Priesters, bereits die ewige Vergebung erhalten hatte. Die allerdings ihre Zeit noch auf Erden verbüßen musste, nach den Regeln der Menschen.
Ihr Blick war weiter auf die Haushälterin geheftet, während sie ihre Gedanken zu ordnen versuchte. Mit den Augen glitt sie von dem freundlichen Gesicht hinab zu den fahrigen Händen. Die geschwungenen Schultern waren durch den bunten Pullover hindurch zu erkennen. Die Haare wirkten gepflegt und waren am Hinterkopf zusammengesteckt. Abgelenkt von der fast andächtigen Aufmerksamkeit der Frau, schweiften ihre Gedanken ab. Ob sie wohl jemals einen Mann gehabt hatte? Oder fühlt sie sich unvergänglich und beständig im Angesicht der Zeit und ihres Glaubens? Sie hätte sie gerne nach dem Grund ihrer Entscheidung, einem Mann Gottes zu dienen, gefragt.
»Was halten Sie eigentlich von der ganzen Sache?«
»Ich?«
»Sie haben mit ihm zusammengelebt. Denken Sie, er könnte zu einer solchen Tat fähig sein?«
»Meinen Sie den Selbstmord oder die Kinder?« Sie wurde ernst.
Maria Dolores dachte nach. Mit ihrer Frage zog die Frau eine klare Trennlinie. Der Selbstmord oder die Kinder. Es schien, als wolle sie die beiden Dinge strikt auseinanderhalten. Zwei ganz unterschiedliche Sachverhalte, die auch nach ganz unterschiedlichen Antworten verlangten. Vielleicht.
»Die Kinder«, fragte sie als Erstes, aus rein subjektiven Gründen.
»Das ist ausgeschlossen. Er wäre dazu nicht
Weitere Kostenlose Bücher