Ich vergebe dir - Bucciarelli, E: Ich vergebe dir - Io ti perdono
Stadtteil, der in den siebziger Jahren entstanden war. Vergangenheit und Gegenwart vereint durch ein Stück unterirdische Straße.
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»Ein italienischer Zuhälter, der alle weiblichen Mitglieder einer kompletten Familie für sich anschaffen lässt. Die Mutter, zwei Töchter, Schwiegertochter. Drei Cousinen. Vorherrschender Familienname: Torvai.« Pietro Corsari breitete die Fahndungsfotos von damals auf Maria Dolores Schreibtisch aus.
Sie griff nach dem Erstbesten und schaute es sich von Nahem an. »Das ist ja fast noch ein Kind.«
»Sie dürfte heute knapp fünfzig sein.«
»Wer weiß, wo sie sich jetzt aufhält.« Maria Dolores ging die Fotos der Reihe nach durch.
»Wir haben uns etwas umgehört, und es scheint, als ob sich das Motto ›Wir regeln die Dinge innerhalb der Familie‹ noch immer bewährt«, bemerkte Corsari.
»Das heißt?«, fragte Maria Dolores neugierig.
»Es gibt einen anderen Clan, der die Prostitution in der Gegend kontrolliert, und der funktioniert ebenfalls, sagen wir, in Form eines Familienunternehmens.«
»Interessant wäre herauszubekommen, ob das Verwandte der Torvais sind.« Hört sich an wie der Name eines Kriegervolkes , dachte Maria Dolores bei sich.
»Ich vermute eher nicht. Die Torvais waren Albanerinnen, diese hier sind aber Russinnen«, antwortete Corsari. »Ist übrigens gerade von den Kollegen aus Aosta gekommen«, er reichte der Kommissarin ein Fax.
Maria Dolores nahm es entgegen. Es war der Brief des Priesters. Darunter eine handschriftliche Notiz: Eine Vorladung für Hauptkommissarin Vergani wird in den nächsten Tagen folgen . Darunter die Unterschrift des Polizeimeisters von Aosta.
»Die unterschätzen das Ganze offensichtlich, weil sie keinen blassen Schimmer haben«, bemerkte sie, mit der eindeutigen Absicht, ihrem Gegenüber Fragen zu entlocken.
»Von was genau redest du?«, war seine prompte Reaktion.
»Im Augenblick kann ich keine Einzelheiten weitergeben.«
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»Und das wundert dich?«
»Eigentlich nicht wirklich. Dass so ein Beruf von der Mutter auf die Tochter übergeht, ist eigentlich nichts Ungewöhnliches«, gestand sie, während sie ihr beim Stillen zusah. »Aber dass auch Schwiegertöchter und Cousinen in das Geschäft miteinbezogen werden, ist doch eher ungewöhnlich.«
»Männer suchen sich eben gemeinhin ihre Frauen innerhalb des gleichen Berufsfeldes aus, und erst recht in so einem, na, sagen wir mal, reizvollen Sektor.« Inga, derzeit in der Rolle der frischgebackenen Mutter, hatte ihr typisches Grinsen aufgesetzt.
»Sag mal, was für Mengen verschlingt eigentlich dein Kind?«, fragte Maria Dolores, nicht ganz bei der Sache.
»Die normale Menge. Er wiegt normal, wächst normal, schläft normal. Alles normal.« Zusammen mit Ingas Lächeln klang das Wort »normal« in ihren Ohren richtig wohltuend.
»Wie auch immer, wir bleiben an den Albanerinnen nur dran, um ganz sicher zu sein, dass sie nichts mit unserem aktuellen Fall zu tun haben. Die gefundenen Knochen lassen zwar auf einiges schließen, aber es fehlt die komplette Geschichte.« Maria Dolores ließ ihren Blick durch das Zimmer schweifen. »Neu?« Sie zeigte auf das eigenartige Bild an der Wand, auf dem zwölf gläserne Handgranaten in schrillen Farben zu sehen waren, sauber nebeneinander aufgereiht. Daneben, auf einem Möbelstück im Art-déco-Stil, eine rosafarbene Schale, in der weitere Handgranaten wie saftige Äpfel drapiert lagen.
»Die neuesten Arbeiten von Silvia Levenson«, antwortete Inga und löste ihr Kind von ihrer runden weißen und ungeheuer prallen Brust. »Die Handgranaten aus Glas wurden an der Grenze zu Dänemark beschlagnahmt. Die Beamten hatten sie doch tatsächlich für echt gehalten. Stell dir vor, man hätte sie wirklich gezündet.«
»Machst du Witze?«
»Absolut nicht. Wie du siehst, sind sie jetzt hier. Es wollte sich niemand finden, der den Transport an ihren Bestimmungsort übernehmen wollte.«
Sie schloss ihre dünne Weste, behielt den Säugling auf ihrem Arm und klopfte ihm leicht auf den Rücken. Gesättigt und zufrieden schlief er fast augenblicklich ein, wobei er das Köpfchen auf die Schulter seiner Mutter legte. Ihr dichtes rotes Haar, das durch die Schwangerschaft an Fülle nicht verloren hatte, umschloss ihn wie ein Vorhang.
Maria Dolores musterte sie und mischte sich schließlich ein. »Du wirst ihn irgendwann noch ersticken, kannst du deine Haare nicht zusammenbinden?«
Inga tat so, als hätte sie nichts gehört und setzte ihre
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