Ich vergebe dir - Bucciarelli, E: Ich vergebe dir - Io ti perdono
mechanischen Handgriffe mit einer für sie ungewöhnlichen Ruhe und Gelassenheit fort. Präzise und behutsam, während sie leise flüsterte: »Eine reine Überlebensfrage. Je mehr er schläft, desto besser für mich. Und jetzt sag mir den wahren Grund, warum du morgens um zehn hier hereinschneist.«
»Ein Fall und ein Mann«, antwortete Maria Dolores.
»Setz dich und fang mit dem zweiten Punkt an«, ordnete Inga an, während sie ging und Kaffee aufsetzte.
46
Sie brachte es nicht übers Herz, ihr von dem entführten Mädchen zu erzählen. Es wäre ihr wie ein Sakrileg vorgekommen. Denn dass Worte sich einfach so in Luft auflösten, daran glaubte sie nicht. Sie mochte Inga nicht beunruhigen oder das nahe Böse spüren lassen, daher beschloss sie, von etwas anderem zu sprechen.
Inga Riboldi befand sich in jenem Stadium, das jeder Geburt eines gesunden Kindes folgte: Die Müdigkeit erstickte jeden Gedanken. Alles, was zählte, war Wachstum, Entwicklung, Zukunft. Gewiss, sie war zwar eine Mutter, aber weiterhin auch eine Frau. Sie hatte ihr unkonventionelles Aussehen nicht verloren, ihre wilde Mähne, ihre eng anliegende Kleidung, ihre ungezwungene Ausdrucksweise. Tatsache jedoch war, dass sie in Maria Dolores’ Augen eine brave Hausfrau darstellte, mit einem Kind am Hals und einem berufstätigen Ehemann.
»Willst du etwa damit sagen, dass du dich schon nicht mehr daran erinnern kannst, wie das zwischen dir und Michele angefangen hat?«
Maria Dolores hielt die Tasse zwischen beiden Händen, als wolle sie sich an dem Kaffee wärmen. » Zwei, die sich gleich beim ersten Mal so leidenschaftlich lieben wie wir, gehören einfach zusammen « hatte sie damals gesagt, und so war es tatsächlich auch gekommen.
»Er sieht gut aus, oder? Nichts dagegen einzuwenden. Ein nettes Lächeln, tiefgründige Augen…« Inga fuhr unbeirrt fort, als ginge sie in Gedanken eine auswendig gelernte Liste durch. »Habe ich was vergessen?«
»Muskulöse Arme, die Schutz und Geborgenheit vermitteln. Groß, nicht zu kräftig, aber immerhin dicker als ich. Stark genug, um die Welt zu beschützen.«
»Ach ja, Superman.« Inga schaute Maria Dolores schief an.
»Du weißt, wie er ist. Absolut nicht aufdringlich. Geschätzt selbst von Leuten, die sonst sehr wählerisch mit Menschen sind«, fügte sie stolz hinzu.
»Mit ausgeprägtem Ego. Darin seid ihr euch recht ähnlich«, fasste Inga zusammen, während Maria Dolores neu ansetzte: »Voller Elan, originell und immer zu Überraschungen bereit …« Sie lächelte.
Dann schauten sich die beiden Frauen an, und Inga warf ungeduldig dazwischen: »Okay, das ist Michele, das wissen wir nun. Und dieser andere? Was hat er, was Michele nicht hat?«
»Wir reden miteinander. Sonst nichts. Das ist doch nicht verboten, oder?« An Maria Dolores Augen war die Hoffnung abzulesen, ihre Freundin möge dem widersprechen.
»Ihr unterhaltet euch? Nachts um zwei, zu jeder beliebigen Tageszeit, abends, morgens, im Chat, per SMS , am Telefon … ihr redet, sagst du? Los, zähl mal auf. Du hast bestimmt schon eine Liste gemacht.«
Maria Dolores ließ sich Zeit, seufzte und begann schließlich: »Er hat den kompletten Überblick über aktuelle politische und juristische Themen. Was nicht einfach ist, musst du wissen.« Ungeachtet des verwunderten Gesichtsausdrucks ihrer Freundin übersprang sie weitere Details und brachte es kurz und knapp auf den Punkt: »Er kann Sachverhalte strukturiert, ausführlich und präzise formulieren … das hört sich einfach an, ist es aber absolut nicht.« Dann blickte sie auf und lächelte verlegen.
»Hä?«, Ingas verblüffte Reaktion.
»Ja, er hat ein ganz besonderes Sprachgefühl, wenn man so will.«
»Du nimmst mich auf den Arm, oder? Der Mann ist verheiratet, hat zwei Kinder, und ihr tut nichts anderes, als euch Tag und Nacht über Polizeiberichte zu unterhalten? Kompletter Überblick … maximales Ergebnis bei minimalem Worteinsatz. Ja, ja. Alles klar. Der ist total durchgeknallt, wenn du mich fragst. Aber dir, meine Liebe, geht’s auch nicht viel besser«, kommentierte Inga mit einer leichten psychomotorischen Erregung.
»Er versteht auf subtile Weise, mir das Gefühl zu vermitteln, dass ich mit dem Leben im Reinen bin«, versuchte Maria Dolores auszuweichen und griff dann Ingas Bemerkung auf. »Mehr gibt es nicht zu erzählen. Ich mache nichts Schlimmes. Ich rede, höre zu. Sonst nichts.«
»Weißt du eigentlich, wie viele Therapiesitzungen dich diese
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