Ich vergebe dir - Bucciarelli, E: Ich vergebe dir - Io ti perdono
Hörer ihres privaten Telefons in der Hand.
»Hier spricht der Vater von Arianna. Guten Abend, Frau Kommissarin.« Er schien keinen eigenen Namen zu haben. Eine Identität erhielt er nur über seine Tochter. Er war der Vater von Arianna oder der Mann einer Frau, die an gebrochenem Herzen gestorben war. Ein Mann, der nicht mehr wusste, woran er sich festhalten konnte. Außer in diesem Moment: Er hielt sich an ihr fest.
»Frau Kommissarin, sagen Sie mir alles, was ich noch nicht weiß.«
»Dasselbe will ich von Ihnen. Erzählen Sie mir etwas über die Eltern der anderen Kinder. Kennen Sie sich gut?«
»Inzwischen ja«, antwortete er leicht verlegen. »Wieso fragen Sie?«
»Ich beziehe mich auf eine Tatsache, die auf Fakten beruht. Die meisten pädophilen Täter sind im familiären Umfeld zu suchen. Im engeren oder weiteren Sinn. Personen, die die Kinder kennen.«
»Aber wir sind nicht miteinander verwandt«, unterstrich er.
»Sie alle stammen aus der gleichen Gegend, verbringen die Sommerferien am selben Ort. Zumindest vom Sehen kennen Sie sich doch. Von der Schule, den Spielplätzen, vom Einkaufen. Und jetzt sind alle zusammengewachsen, wie eine große Familie. Können Sie mir sagen, welche Kinder als Erstes verschwunden sind?«
»Wenn ich mich richtig erinnere, Ariel und Antonio.«
»Antonio. Ist sein Vater nicht der mit der Jägerkleidung?«
»Ja. Ein leicht aufbrausender Typ, aber man kann ihn verstehen: Als man seinen Sohn fand, war er übersät von Brandwunden, die vermutlich von Zigaretten stammten. Man hatte sie auf Bauch und Rücken des Jungen ausgedrückt. Am Hals hatte er Spuren von Fesseln. Er muss am Boden festgebunden worden sein, wie ein Tier. Ein eineinhalbjähriges Kind. Diesen Perversen würde ich auch mit meinen eigenen Händen umbringen wollen.«
»Und Sie würden auch in den Wäldern nach ihm suchen?«, fügte die Kommissarin hinzu.
»Ja, auch das.«
»Kennen Sie ihn denn von früher?«
»Ich nicht. Einige andere Eltern aber. Das Einzige, was ich weiß, ist, dass er schon immer ein eher auffälliger Typ war. Ich meine, er hatte wohl bereits Probleme mit dem Gesetz. Er ist ein Wilderer.«
»Dann kennt er sich wahrscheinlich sehr gut in den umliegenden Wäldern aus?«, fragte Maria Dolores.
»Das auf alle Fälle«, antwortete er schroff, und die Kommissarin ließ nicht locker.
»So gut, dass er sich ohne Probleme dort verstecken könnte?«, halb zu sich selbst.
»Worauf wollen Sie hinaus?«
»Ich möchte nur Informationen«, beruhigte Maria Dolores ihn.
»Frau Kommissarin, Sie irren sich, wenn Sie denken, dass er es war: Er leidet sehr.«
Davon war Maria Dolores überzeugt. Aber eines wollte ihr nicht aus dem Kopf. Warum ließ der Entführer die Kinder wieder frei? Warum schaffte er sie nicht aus dem Weg? Warum behandelte er sie wie Tiere, tötete sie aber nicht?
67
Der Blick von Sòligo Ligure aus war geradezu atemberaubend. Auf der einen Seite erstreckte sich entlang der Küste der so genannte »Golf der Dichter«, auf der anderen Seite die Ortschaften Fiascherino und Tellaro. Der allabendliche Sonnenuntergang tauchte die Umgebung in ein leuchtendes Rot und ließ die Umrisse von oben betrachtet unwirklich erscheinen: die Segelboote, die in den Hafen zurückkehrten, die Kreuzfahrtschiffe, die ihre Festbeleuchtung anschalteten, und die Kriegsschiffe aus dem nahe gelegenen Militärstützpunkt von La Spezia, die die Geister der Vergangenheit wachriefen. Bei klarer Sicht konnte man sogar die Inseln Gorgona, Capraia und Korsika ausmachen, und man hatte den Eindruck, als genüge es, die Hand auszustrecken, um sie zu berühren.
Nur mit Mühe konnte man sich hier einen Parkplatz ergattern; die neu angekommenen Touristen warfen hier Anker und verließen nur ungern wieder den Ort. Die Lokale standen so dicht beieinander, als ginge es um eine Seilschaft zur Rettung der Psyche. »Wegsperren sollte man sie alle!«, hörte man nicht selten die verzweifelten Flüche der Einheimischen schon um neun Uhr morgens.
Zweieinhalb Autostunden hatten sie von Mailand bis hierher gebraucht. Sie waren früh aufgebrochen, Funi am Steuer seines knallroten Peugeots. Nun waren sie zu Fuß auf dem Weg in die Ortschaft und begegneten dabei einem alten Mann mit zwei weißen, über den Ohren eingepflanzten Haarbüscheln, der Zementsäcke und Ziegelsteine aus seinem Lastwagen entlud. Während seiner Arbeit kommentierte er lauthals die Nachrichten des Vortages: »Scheiß Gauner, in den Knast gehört ihr alle.«
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