Ich vergebe dir - Bucciarelli, E: Ich vergebe dir - Io ti perdono
kleinen Jungen, der soeben mit den Fingern im Nutellaglas erwischt worden war, nicht verbergen.
63
Das Kind lag mit tief liegenden Augen und abwesendem Blick auf dem Bett. Zugedeckt mit einem weißen Laken, eine Infusionsnadel in seinem Arm. An seiner Seite eine junge, etwa dreißigjährige Tante der Kleinen. Sie ließ sie nicht aus den Augen, hielt ihre kleine Hand fest umschlossen. Um das Mädchen herum eine ganze Armee an Stofftieren. Riesige, winzige. Hunde, Bären, Enten.
Eine Krankenschwester hatte die Kommissarin bis zum Zimmer begleitet. Beim Betreten des Krankenhauses hatte sie ihren Ausweis vorgezeigt. Einem Polizeibeamten verweigerte man nicht den Zutritt. Funi war draußen geblieben, zusammen mit einigen Journalisten, die sich auf die niedrige Mauer bei der Rampe gesetzt hatten, wo die Rettungswagen rein und raus fuhren. Einer von ihnen hatte den Blick gehoben, als sie das Gebäude betreten wollte. Unsicher hatte er sich mit seinem Kollegen besprochen, der mit dem Kopf schüttelte. Vor der Zimmertür hatte man einen Beamten der Carabinieri postiert. Die Krankenschwester stellte sie einander nicht vor. Sie grinste den uniformierten Mann nur verschmitzt an, der ihr Lächeln erwiderte, dann kehrte sie zu ihrer Arbeit zurück. Maria Dolores informierte ihn nicht, mit wem er es zu tun hatte, sondern ging entschlossen auf die Tür zu. Angesichts dieser Zielstrebigkeit hielt der Beamte sie wohl für eine Verwandte, öffnete die Zimmertür und ließ sie eintreten.
»Maria Dolores Vergani, ich bin eine Freundin von Ariannas Mutter. Wie geht es der Kleinen?«
»Schlecht. Sie spricht nicht. Isst nicht. Liegt den ganzen Tag nur so da.« Die Frau schaute die Kommissarin nicht einmal an, während sie sprach.
»Und was meinen die Ärzte?«
»Sie sagen, dass sie noch klein ist, dass sie sich körperlich schon bald wieder erholt haben wird. Dann beginnen erst die eigentlichen Probleme.«
»Und wo ist ihr Vater?«
»Davide ist auf dem Weg hierher, er wird jeden Moment hier sein.«
»Ich werde draußen auf ihn warten. Halten Sie durch, Arianna wird jeden brauchen können.« Brauchen, ja. Physisch und psychisch.
Maria Dolores näherte sich dem kleinen Mädchen und strich ihr über den Kopf. Dann spürte sie, wie die Wut langsam in ihr hochstieg, und sie floh aus dem Zimmer. Fast stieß sie gegen den Vater, der sie erkannte.
»Haben Sie gesehen, was er angerichtet hat? Und jetzt behaupten sie auch noch, Don Paolo sei der Pädophile.«
»Beruhigen Sie sich, ich denke, dass wir ihn als Täter ausschließen können.« Sie ergriff seine Hand.
»Ermitteln Sie auch in dem Fall?«
»Ja, für die Presse. Ich habe keine offizielle Erlaubnis, aber ich würde Sie gerne sprechen. Außerhalb des Krankenhauses.«
»In Ordnung. Wann? Ich möchte nichts weiter als Gerechtigkeit.«
»Ich auch. Sie haben meine Nummern. Rufen Sie mich heute Abend an.«
»Ganz bestimmt.«
Dann umarmte er sie. Für Maria Dolores eine ungewohnte, für den Mann eine existentielle Geste. Er durfte nicht aufgeben. Musste allein die Last eines missbrauchten Kindes und den Tod seiner Frau tragen, die an dem Schmerz zerbrochen war.
64
Sie war weit entfernt, ja. Weit entfernt von Mitgefühl und Vergebung. Und mit ihr auch dieser Mann. Nicht so Don Paolo, der die Wahrheit mit sich ins Grab genommen hatte.
»Ich bin sicher, dass es kein Selbstmord war«, sagte sie zu Funi, dem es gelungen war, zumindest für die Rückfahrt den Platz am Steuer auszuhandeln. Im Gegenzug dafür hatte sie ihn überreden können, einen Umweg über die Berge zu machen und im Ayas-Tal anzuhalten, um ihre Überlegungen an der Realität zu überprüfen. »Dieser Mann ging mit sich selbst so streng um, dass er meiner Meinung nach niemals eine Todsünde begangen hätte.« Davon war sie wirklich überzeugt und vergaß dabei einen Moment den um ein Haar begangenen Verstoß gegen das Beichtgeheimnis.
»Aber nichts spricht gegen einen Selbstmord«, wandte Funi ein.
»Der Brief, Funi. Und das Telefongespräch. Ist das nichts?«
»Sie meinen, er wurde dazu gezwungen? Na ja, ein Priester steht wahrscheinlich auch lieber als Märtyrer da als als Selbstmörder, meinen Sie nicht?« Vielleicht hatte er Recht. Dann wechselte er das Thema: »Fahren wir morgen nach Ligurien?«, und kam mit der Frage seiner Vorgesetzten zuvor.
»Ja. Gleiche Zeit wie heute. Ich möchte diesen armen Priester als Täter absolut ausschließen können. Zumindest für mich.« Maria Dolores hatte keinerlei
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