Ich vergebe dir - Bucciarelli, E: Ich vergebe dir - Io ti perdono
Zweifel, doch sie wollte jeden Verdachtsmoment aus ihrem Kopf verbannen können, mochte er auch noch so gering sein.
»Warum tun Sie das, Frau Kommissarin?«
»Ich weiß nicht, Funi. Aber ich habe das Gefühl, dass es wichtig ist. Wollen Sie es lieber sein lassen?«, fragte sie ihn und sah ihn von der Seite an.
»Nein.«
Seit er mit Maria Dolores Vergani zusammenarbeitete, hatte er das Bedürfnis, alles von ihr zu verstehen, alles über sie zu wissen. Funi war wie ein Blindgänger, der seit Jahren in der Erde ruhte. Doch wehe jemand trat darauf.
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Welche Geheimnisse mochte sie wohl hüten. Welche Lügen, Vorenthaltungen, Unterschlagungen. Heimlich beobachtete Maria Dolores sie durch den Türspalt beim Aufräumen der Sakristei. Gleichförmige, präzise Handbewegungen. Sie öffnete die Schränke. Schloss sie wieder. Mit der Selbstsicherheit eines Mannes.
Maria Dolores’ Blick fiel auf ihre offenen Haare, die ihr bis über die Schultern reichten. Von hinten wirkte sie wie eine andere Frau. Keine Spur von einer Magd mit roher, ein wenig theatralischer Ausdrucksweise , wie Perpetua, die berühmte Haushälterin des Priesters,in Alessandro Manzonis Roman »Die Brautleute« beschrieben wird; nichts von einer schludrigen Hausangestellten. Der Kommissarin war es noch immer nicht gelungen, sich ein eindeutiges Bild von der Frau zu machen. Sie beobachtete sie weiter. Hielt den Atem an. Sie konnte sie etwas deklamieren hören. Eine Verwünschung. Die Frau räumte Bücher in Schachteln, füllte einen großen Karton, dann hob sie ihn ohne große Anstrengung hoch und stellte ihn beiseite. Ihre Bewegungen wirkten nicht mühelos, aber bestimmt und kraftvoll. Für den Priester, dem sie den Haushalt geführt hatte, war sie gewiss ein Halt gewesen. Ihm galt der letzte Blick am Abend. Der erste am Morgen. Der Blick einer Frau. Maria Dolores wartete noch einen Moment, dann betrat sie die Sakristei.
»Entschuldigen Sie, ich habe meine Haare nicht hochgesteckt.« Nach dem ersten Schrecken, der ihr für einen kurzen Moment den Atem nahm, fasste sie sich an den Kopf und zog aus ihrer Tasche eine Haarnadel hervor. In wenigen Sekunden hatte sie sich am Hinterkopf einen Dutt gebunden. Maria Dolores lächelte. Trotz allem bleibt sie doch eine Frau , dachte sie bei sich. Und bereute das trotz allem . Auch wenn sie es ehrlicherweise so empfand.
»Entschuldigen Sie, dass ich mich nicht angemeldet habe, aber ich war in der Gegend und habe spontan beschlossen, vorbeizukommen.« Die Haushälterin verlor kein Wort über den überraschenden Besuch, als sei sie unerwartete Gäste gewohnt. Sie rückte ein Stück auf die Seite und holte aus einem noch geöffneten Karton zwei Bücher hervor.
»Die sind für Sie«, und streckte ihr die zwei Bände hin. Maria Dolores nahm sie entgegen. Dann blickte sie der Frau in die Augen: »Woher wissen Sie, dass sie für mich sind?«
»Das hat er so bestimmt. Diese hier sind für Maria Dolores, die noch nicht vergeben kann, hat er gesagt.«
Was wusste diese Frau noch alles? Welche Bemerkungen über mich bewahrte sie sonst noch in ihrem Inneren? An welchen Gedanken hatte er nur sie allein teilhaben lassen? Man müsste irgendeinen Trick anwenden, um sie zum Sprechen zu bringen.
»Der Hundenapf draußen ist verschwunden«, bemerkte Maria Dolores halb in fragendem Ton.
»Es ist noch zu früh«, antwortete die Frau.
»Oder vielleicht schon zu spät«, schlug Maria Dolores vor.
»Auch möglich«, entgegnete sie.
»Für viele Dinge«, führte Maria Dolores eine Sekunde lang den Gedanken weiter, dann setzte sie neu an: »Was werden Sie nun tun?«
»Ich? Ich mache das, was ich immer getan habe. Wenn Gott so will. Ich werde mich um den neuen Priester und um seinen Haushalt kümmern.«
»Und im Gegenzug erhalten Sie sein Vertrauen und seine Dankbarkeit. Ist das nicht etwas wenig für eine noch junge Frau wie Sie?«
»Der Glaube zu Gott birgt eine andere, viel größere Entlohnung, von der Sie sich keinerlei Begriff machen können.«
Maria Dolores dachte nach. Dann tauchten vor ihr Bilder von Hunden und Kindern auf. Ihr alter Schäferhund, der abgehauen und wieder zurückgekehrt war. Ein Kind, das von seiner strenggläubigen Mutter mit einem Messer niedergestochen worden war und nun im Krankenhaus lag. Und sie, Maria Dolores. An was glaubte sie eigentlich?
»Glaube ist nur etwas für Menschen, die ihn brauchen«, war das Einzige, das sie hervorbrachte.
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»Hauptkommissarin Vergani?« Maria Dolores hatte den
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