Ich war der Märchenprinz
Eigenschaften, die ich dabei erworben habe, mehr zueinander als zu mir gehören, ja, jede einzelne von ihnen hat mit mir wahrscheinlich nicht mehr zu tun als mit anderen Menschen, die sie auch besitzen. Aber ohne Zweifel wird man trotzdem durch sie bestimmt und besteht aus ihnen, auch, wenn man mit ihnen nicht eins ist. Wenn ich sagen müßte, wie ich eigentlich bin, würde ich in Verlegenheit geraten, denn ich habe mich noch nie anders geprüft als an einer Aufgabe und im Verhältnis zu ihr. Mein Selbstbewußtsein ist weder beschädigt worden, noch ist es verzärtelt oder eitel, und es hat keinesweg das Bedürfnis nach dieser Wiederinstandsetzung und Ölung, die man Gewissenserforschung nennt.
Bin ich ein starker Mensch?
Weiß nicht. Sicher bin ich immer ein Mensch gewesen, der seiner Kraft vertraut. Ich zweifle nicht daran, daß der Unterschied zwischen dem Haben eigener Erlebnisse und Eigenschaften und ihrem Fremdbleiben nur ein Haltungsunterschied ist, in gewissem Sinn ein Willensbeschluß oder ein gewählter Grad von Allgemeinheit und Personhaftigkeit, auf dem man lebt. Ganz einfach gesprochen: ich kann mich zu den Dingen, die mir passieren oder die ich tue, mehr allgemein oder mehr persönlich verhalten. Ich kann einen Schlag außer als Schmerz auch als Kränkung empfinden, wodurch er unerträglich wächst. Aber ich kann ihn auch sportlich nehmen, als ein Hindernis, von dem ich mich weder einschüchtern noch in blinden Zorn bringen lassen darf. Und dann kommt es auch oft vor, daß ich ihn überhaupt nicht bemerke. In diesem Fall ist aber nichts anderes geschehen, daß ich ihn in einen allgemeinen Zusammenhang, nämlich den der Kampfhandlung, eingeordnet habe, wobei sich sein Wesen abhängig von der Aufgabe erweist, die er zu erfüllen hat. Und eben diese Erscheinung, daß ein Erlebnis seine Bedeutung, ja seinen Inhalt erst durch seine Stellung in einer Kette folgerichtiger Handlungen erhält, zeigt, daß ich es nicht nur als persönliches Geschehnis, sondern als Herausforderung meiner geistigen Kraft ansehe.
Wunderlicherweise nennt man das, was beim Boxen als überlegene Geisteskraft gilt, nur kalt und gefühllos, sobald es bei Menschen, die nicht boxen können, aus Neigung zu einer geistigen Lebenshaltung entsteht. Da sind eine ganze Reihe von Unterscheidungen gebräuchlich, um je nach der Lage ein allgemeines oder ein persönliches Verhalten anzuwenden und zu fordern. Einem Mörder wird es, wenn er sachlich vorgeht, als besondere Rohheit ausgelegt; einem Professor, der in den Armen seiner Gattin an einer Aufgabe weiterrechnet, als knöcherne Trockenheit; einem Politiker, der über vernichtete Menschen in die Höhe steigt, je nach Erfolg als Gemeinheit oder Größe; von Soldaten, Henkern und Chirurgen dagegen fordert man geradezu diese Unerschütterlichkeit, die man an anderen verurteilt.
Ohne, daß ich mich weiter auf die Moral dieser Beispiele einzulassen brauche, fällt die Unsicherheit auf, mit der ich jedesmal einen Kompromiß zwischen sachlich richtigem und persönlich richtigem Verhalten schließe.
Ich glaube, man ist früher mit besserem Gewissen Person gewesen als heute. Die Menschen waren wie Halme im Getreide: sie wurden von Gott, Hagel, Feuer, Pest und Krieg wahrscheinlich heftiger hin und her bewegt als heute, aber im ganzen, als Feld; was für den einzelnen Halm noch an persönlicher Bewegung übrig blieb, das ließ sich verantworten und war eine klar abgegrenzte Sache. Heute dagegen hat die Verantwortung ihren Schwerpunkt nicht im Menschen, sondern in den Sachzusammenhängen. Die Erlebnisse haben sich vom Menschen unabhängig gemacht. Sie sind auf’s Theater gegangen, in die Bücher, in die Berichte der Forschungsstätten, in die Gesinnungs- und Religionsgemeinschaften; und sofern sich die Erlebnisse nicht gerade in der Arbeit befinden, liegen sie einfach in der Luft; wer kann da heute noch sagen, daß sein Zorn wirklich sein Zorn ist, wo ihm soviele Leute dazwischenreden und es besser verstehen als er? Ich nicht.
Es ist eine Welt von Eigenschaften ohne Mann entstanden, von Erlebnissen ohne den, der sie erlebt, und es sieht so aus, als ob ich im Idealfall privat überhaupt nichts mehr erleben werde und sich die persönliche Verantwortung in ein Formelsystem von möglichen Bedeutungen auflöst.
Ich glaube, ich bin ein Charakter, aber ich habe keinen.
Ich bin ein männlicher Kopf.
Ich bin nicht empfindsam für andere Menschen und habe mich selten in sie hineinversetzt, außer, wenn ich
Weitere Kostenlose Bücher