Ich war ein Glückskind - mein Weg aus Nazideutschland mit dem Kindertransport
schön, wenn man sich nicht gut ausdrücken und nicht sagen kann, was man möchte.
Jetzt bin ich seit drei Wochen hier und mein Englisch ist noch nicht viel besser. Aber ich habe auch nicht viel Gelegenheit, es zu üben, außer beim Abtrocknen mit dem Dienstmädchen. Ich glaube, man wird mit der Zeit dumm, wenn man sich nicht richtig ausdrücken kann.
Lotte kommt mich morgen besuchen und ich bin schon sehr aufgeregt. Aber sie kommt nicht hierher nach »The Larches«, denn Mrs Rix hat gesagt, das wäre zu viel Arbeit für sie.
Deshalb treffe ich mich mit Lotte in einem Dorf zwischen hier und Cambridge.
Ich muss zu Fuß dorthin gehen, ungefähr zwei Meilen, aber das tut mir sicher gut.
Ich bin so froh, Mama, dass du mit mir immer so lange Spaziergänge durch den Botanischen Garten gemacht hast!
Am Samstagnachmittag war ich auf einer Kirmes, aber ich hatte ja kein Geld. Und selbst wenn, hätte ich es nicht ausgegeben.
Es ist kein schönes Gefühl, von anderen Menschen abhängig zu sein.
Ich bin froh, dass es meinem lieben Papa besser geht und dass meine süße Mami wieder eine gesündere Gesichtsfarbe hat.
Schreckliches Wetter hier.
Ich schicke Euch eine Million Küsse und tausend Grüße an alle Verwandten.
Bitte schreibt mir ganz bald. Tausend Küsse von
Eurer Marion
Innerhalb ihrer eigenen vier Wände hat mich Mrs Rix zwar nicht viel besser als ein Dienstmädchen behandelt, doch wenn sie mich – ihr süßes kleines Flüchtlingsmädchen – zu öffentlichen Anlässen mitnahm und die anderen Dorfbewohner in der Nähe waren, bemühte sie sich, nett zu mir zu sein.
Inzwischen war mir klar, dass ich der Rolle, die sie mir zugedacht hatte, nicht gerecht wurde und dass das Dorf allmählich jedes Interesse an Mrs Rix und ihrer tätigen Nächstenliebe, die darin bestand, ein armes kleines Flüchtlingskind aufzunehmen, verloren hatte.
Aber sie gab nicht so schnell auf und hatte immer noch den einen oder anderen Trick auf Lager, um sich die Bewunderung der Dorfbewohner zu sichern.
Ohne an meine Eltern zu schreiben und deren Erlaubnis einzuholen und auch ohne vorher mit mir darüber zu sprechen, nahm sie mich eines Sonntags mit zur Messe und teilte mir nur lapidar mit, dass das ab sofort die Regel sei.
Rückblickend kann ich leicht sagen, ich hätte mich weigern sollen. Nicht dass ich in Deutschland mit meinen Eltern regelmäßig in die Synagoge gegangen wäre – ich war ehrlich nur zwei- oder dreimal an hohen Feiertagen wie Rosch ha-Schana, dem jüdischen Neujahrstag, oder Jom Kippur, dem Versöhnungstag, in der Synagoge gewesen; doch ob es mir gefiel oder nicht: Ich hatte jüdisches Blut, war in Hitlers Augen eine Jüdin und hatte Deutschland aus genau diesem Grund verlassen müssen.
Ich hätte mich weigern sollen, mit Mrs Rix sonntags zur Kirche zu gehen, doch das tat ich nicht.
Das lag zum einen daran, dass meine Eltern mir eingeschärft hatten, meiner Pflegemutter gegenüber, die mich so freundlich und großmütig aufgenommen hatte, stets höflich zu sein und ihr zu gehorchen; zum anderen weil ich buchstäblich bettelarm und voll und ganz von Mrs Rix abhängig war.
Mich ihr zu widersetzen, hätte ich schnell bereut, das war mir klar.
Ich sehe mich noch heute an jenem Augustmorgen in Great Shelford in meinem besten grünen Kleid und mit einem von Elizabeths Strohhüten auf dem Kopf – darauf hatte Mrs Rix bestanden.
»Du musst unserem Gott, Jesus Christus, einen gewissen Respekt erweisen, Marion«, hatte sie gesagt, als sie mir den Hut auf den Kopf drückte.
Als die Mitglieder der Pfarrgemeinde vor der Kirche eintrafen (Mrs Rix, Elizabeth, Billy und ich waren als Erste gekommen, und ich glaube, das war Absicht gewesen), sahen sie Mrs Rix in ihrem Sonntagsstaat dastehen, ihre in rotes Marokkoleder eingebundene Bibel in der einen Hand, den anderen Arm um ihr armes kleines Flüchtlingsmädchen gelegt, das sie an sich drückte, und ihre Gesichter hellten sich auf.
»Was für eine wunderbare Idee, Harriet!«, sagte die Frau mit den langen gelben Zähnen zu Mrs Rix.
»Wie schön, dich hier zu sehen, kleine Marion«, sagte die Kilt-Lady und tätschelte mir die Wange.
»Und wer weiß«, hörte ich die rote Samt-Lady Mrs Rix zuflüstern. »Vielleicht ist dies der erste Schritt, der Ihren kleinen Schützling auf den Weg des Heils führt …«
Beim Betreten der Kirche fiel mein erster Blick auf ein riesiges Kreuz mit Statuen von zwei Heiligen und einem römischen Soldaten daneben.
Hinten im Kirchenschiff
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