Ich war ein Glückskind - mein Weg aus Nazideutschland mit dem Kindertransport
ich zuerst allein auf dem Schulhof, doch dann kamen die anderen Mädchen der Klasse auf mich zu. Zuerst habe ich mich gefreut, aber nur, bis ich sah, dass sie einen Kreis um mich herum bildeten.
Da war ich richtig froh, dass ich so groß bin, sonst hätte ich mich eingesperrt oder bedrängt gefühlt.
»Deutsche! Deutsche! Widerliche Hunnin! Jerry! Jerry!«, riefen die Kinder.
Gekränkt und wütend habe ich den Kopf in den Nacken geworfen, mich resolut an ihnen vorbeigedrängt und bin in die Schule zurückgelaufen.
In der Tür lief ich Miss Seymour in die Arme.
»Marion, bitte, bleib stehen!«, hat sie gesagt.
»Geht nicht, Miss Seymour«, habe ich gesagt. »Sonst kriegen sie mich.«
Miss Seymours Augenbrauen schossen in die Höhe.
»Komm mit, Marion!«, sagte sie und führte mich in ein kleines Büro. Sie machte die Tür hinter uns zu.
Dann hat sie mir eine Tasse Tee gekocht.
In diesem Moment, so glaube ich, erkannte ich zum ersten Mal den Wert einer der am tiefsten verwurzelten britischen Traditionen, die es je gab und heute noch gibt.
Die Engländer sind fest davon überzeugt, dass einen eine Tasse auch in einem Moment größter Not trösten kann.
So war es auch für mich an jenem Tag.
Während ich mit Miss Seymour Tee trank und kleine Brötchen aß, die sie auf einem Gaskocher geröstet und mit Marmelade bestrichen hatte, erzählte ich ihr von meinem Leben, meiner Familie und Deutschland.
Nachdem ich fertig erzählt hatte, sagte sie: »Warte!«, und holte ein Buch mit dem Titel »Jane Eyre«. Dieses Buch hatten mir meine Eltern zum zehnten Geburtstag geschenkt, aber ich war nie dazu gekommen, es zu lesen.
Plötzlich läutete die Schulglocke und wir Kinder mussten in unsere Klassenzimmer zurück.
Ich wollte aufspringen, doch Miss Seymour sagte: »Du nicht, Marion. Du bleibst bei deinem Tee und den Brötchen und wartest, bis ich dich hole.«
Ich war ungefähr eine Viertelstunde lang allein, bis sie zurückkam.
»So, die anderen Kinder werden dich in Zukunft in Ruhe lassen«, sagte sie.
Hinterher erfuhr ich, dass die liebe, nette Miss Seymour an diesem Morgen mit meinen neuen Mitschülerinnen gesprochen und ihnen meine Situation geschildert hatte.
»Seid nett zu ihr, Mädchen«, hatte sie gesagt.
Und das waren sie fortan auch.
11
ZWEI GEBURTSTAGE
Am 9. Oktober 1939 wurde ich zwölf – es war mein erster Geburtstag, den ich in England verbrachte, und mein erster ohne meine Eltern.
An diesem Morgen kam Mrs Rix sogar in die Küche (was nur selten vorkam) und sagte: »Herzlichen Glückwunsch, Marion. Hier sind sechs Pence. Kauf dir im Dorf einen Schoko riegel, mein Geburtstagsgeschenk.«
Ich war nicht sonderlich überrascht.
Nach drei Monaten in ihrem Haus hatte ich begriffen, dass ich von ihr nicht viel zu erwarten hatte.
Elizabeth und ihr Bruder Billy waren an jenem Tag in ihrem teuren Internat.
Doch auch wenn sie zu Hause gewesen wären, hätten sie meinen Geburtstag sicher nicht einmal erwähnt.
Am darauffolgenden Tag schrieb ich an meine Eltern:
Heute kam Euer lieber Brief mit nur einem Tag Verspätung, mein schönstes Geburtstagsgeschenk. Noch lieber hätte ich gestern natürlich mit Euch geredet, aber ich weiß ja, dass das nicht möglich ist.
Phyllis, das Dienstmädchen, hat mir eine Schachtel Bonbons geschenkt, das war sehr lieb von ihr.
In der Klasse haben mir alle Mädchen gratuliert (sie sind sehr nett, seit Miss Seymour ihnen erklärt hat, warum ich von Deutschland weggehen musste).
Als ich am Nachmittag mit dem Schulbus zurückkam und an der Bäckerei ausstieg, hat mich die nette Bäckerin in ihr Geschäft gerufen und mir Süßigkeiten und ein Seidentüchlein geschenkt. Lieb, nicht wahr?
Phyllis hat mir einen Kuchen gebacken. Wir saßen neben dem Ofen und haben ihn gegessen, es war richtig gemütlich. Wir haben auch das Grammofon angemacht und Schokolade gefuttert. Mein Geburtstag war natürlich nicht so schön wie sonst, aber ich glaube, die Engländer feiern Geburtstage nicht so wie wir, und man bekommt auch immer nur ein einziges Geschenk, nicht ganz viele Geschenke wie bei uns.
Eure Post hat mich sehr gefreut.
Ich hoffe, dass wir meinen nächsten Geburtstag zusammen feiern können.
Heute kam im Radio das Lied »Somewhere over the Rainbow«, ein Lied aus dem Zauberer von Oz, und ich habe mir diesen Regenbogen vorgestellt.
Und ich habe ganz viel an Euch gedacht und an unsere Freunde und Verwandten.
Eure Marion, die Euch liebt und nie vergessen wird
22. Oktober
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