Ich war ein Glückskind - mein Weg aus Nazideutschland mit dem Kindertransport
befinden.«
Und so endete die Ansprache des Königs an sein Volk: »Die Aufgabe wird schwer sein. Vor uns können dunkle Tage liegen und der Krieg kann nicht länger nur auf das Schlachtfeld beschränkt werden. Doch wir können nur das tun, was wir für richtig erachten, und wir können unser Anliegen nur ehrfurchtsvoll in Gottes Hände legen. Wenn wir alle miteinander unserem Anliegen voller Entschlossenheit treu bleiben und zu jedem Dienst und jedem Opfer bereit sind, werden wir mit Gottes Hilfe obsiegen.«
Liebes Tagebuch,
nach der Rundfunkansprache des Königs kam »God Save The King!« im Radio und Mrs Rix und Elizabeth und Billy erhoben sich und applaudierten begeistert.
Natürlich stand ich auch auf, doch ich konnte mich nicht mitfreuen. Alle wirkten so glücklich und froh, aber in mir sah es ganz anders aus.
Ich kämpfte mit den Tränen.
Aber natürlich habe ich nicht geweint.
Die schreckliche Wahrheit ist: Jetzt kann ich meine Hoffnungen begraben, dass meine lieben Eltern zu mir nach England kommen können.
Jetzt müssen sie bestimmt in Deutschland bleiben, in einem Land, das sie nicht haben will – ein Land, das nun mit England, meiner neuen Heimat, im Krieg ist.
Wir sind so weit voneinander entfernt, und ich kann nichts tun, um meinen Eltern zu helfen. Ich kann auch nichts für Ruthie und ihre Mutter im besetzten Polen tun.
Lieber Gott, wie werden wir mit dieser neuen Situation umgehen?
England lag nun mit Deutschland im Krieg und ich machte mir schreckliche Sorgen um meine Eltern, meine Freunde, meine Verwandten. Und noch größere Sorgen machte ich mir um Ruthie in Warschau, da Polen ja nun in den Klauen der Nazis war.
Mein einziger Trost war, dass zumindest Lotte in London in Sicherheit war, aber was würde aus meinen Verwandten und meinen anderen Freunden werden, die noch in Deutschland festsaßen?
Zum Glück gab es etwas, das mich von meinem Kummer ablenkte: mein erster Schultag an der Sawston Village School – meiner ersten englischen Schule.
Am 1. Oktober 1939 schrieb ich an meine Eltern:
»Es gibt vier Klassen und ich bin bei den ältesten Schülerinnen, da die anderen Klassen voll sind. Die Schulleiterin und die Lehrerinnen sind recht nett. Der Bus fährt um zwanzig nach acht. Zuerst beten alle Schülerinnen und Schüler miteinander. Die Schule ist gemischt. Im Moment kann ich mir kein Fahrrad leisten. Aber das macht nichts, denn ich kann umsonst mit dem Schulbus fahren.
Das Essen in der Schule ist sehr gut und kostet zweieinhalb Penny am Tag. Man braucht gar nichts für die Schule zu kaufen. Alles ist umsonst und das finde ich gut.«
Alles habe ich meinen Eltern nicht über meinen ersten Schultag erzählt. Den Rest habe ich am Abend meinem Tagebuch anvertraut.
Liebes Tagebuch,
als ich das Klassenzimmer betrat, haben alle anderen Mädchen angefangen zu tuscheln, und ich konnte hören, dass sie Sachen sagten wie: »Blöde Deutsche« und »Hunnin«!
Ich finde es wirklich komisch, dass ich in Berlin als »Judenschwein« beschimpft wurde und hier als »blöde Deutsche«.
Und in der ersten Stunde wurde es noch schlimmer. Unsere Lehrerin, Miss Seymour (sehr hübsch, goldblonde Haare, dunkelblaue Augen und freundliches Lächeln, ganz anders als Frau Müller!) hat viele Fragen über die englische Literatur gestellt.
Bei ihrer letzten Frage: »Wo wurde William Shakespeare geboren?«, bin ich aufgesprungen und habe gerufen: »In Deutschland!«
»Wie kommst du darauf, Marion?«, hat Miss Seymour ganz freundlich gefragt.
Ich war mir meiner Sache sehr sicher und freute mich, dass ich gleich am ersten Tag in der neuen Schule eine richtige Antwort geben konnte: »Das hat Frau Müller gesagt, meine Lehrerin in Deutschland, Miss Seymour.«
Miss Seymour hat tief Luft geholt.
»Verstehe, Marion«, sagte sie dann. »Den Kindern in Nazideutschland wird also erzählt, dass Shakespeare in Deutschland geboren wurde?«
Ich nickte verlegen, denn ich spürte, dass ich einen Fehler gemacht haben musste.
Die anderen Kinder in der Klasse begannen zu lachen. Aber immerhin sagten sie nicht »Judenschwein« zu mir, wie meine Mitschüler in Deutschland.
Miss Seymour hob die Hand und sofort herrschte Ruhe.
Dann kam sie zu mir und strich mir über den Kopf. »Deine Lehrerin hat sich geirrt, Marion«, hat sie gesagt. »William Shakespeare wurde hier in England geboren, in Stratford-upon-Avon. Und darauf sind wir alle sehr stolz.«
Ich schluckte verlegen und die Stunde ging weiter.
In der Pause stand
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