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Ich war ein Glückskind - mein Weg aus Nazideutschland mit dem Kindertransport

Ich war ein Glückskind - mein Weg aus Nazideutschland mit dem Kindertransport

Titel: Ich war ein Glückskind - mein Weg aus Nazideutschland mit dem Kindertransport Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: cbj Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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sang der Chor: »Jesus, du Geliebter meiner Seele.«
    Hinter meinem Rücken hörte ich die Frau mit den langen gelben Zähnen jemandem zuraunen: »Harriet Rix ist eine wahre Heilige, da sie dieses arme Heidenkind in die Herde von uns Gläubigen einführt.«
    Ich schloss die Augen und stellte mir vor, ich sei in meinem Spielzimmer, in unserer ersten Wohnung am Asternplatz, und spiele mit meinen Püppchen, die in der Villa Marion wohnen. Ich wollte überall lieber sein als hier, in dieser Kirche in England.
    Ich hätte meinen Eltern vermutlich nicht erzählen sollen, dass ich neuerdings in die Kirche gehen musste, doch mein schlechtes Gewissen trieb mich dazu, es ihnen später in diesem Brief zu gestehen.
    Doch angesichts dessen, was in ihrem eigenen Leben in Berlin zu jener Zeit geschah, glaube ich nicht, dass es ihnen sehr viel ausgemacht hat.
    Ich hoffe es zumindest. Hier ist der Brief von damals.
    16. August 1939
    Mein liebster, bester Papa, meine liebste, beste Mama der Welt,
    ich war heute in der Kirche. Das war etwas komisch. Eigentlich wollte ich nicht hingehen, aber dann war es gar nicht so schlimm. Habe auch zum ersten Mal einen Strohhut getragen. Mädchen und Frauen gehen nämlich nur mit Hut in die Kirche.
    Mrs Rix geht jeden Sonntagmorgen in die Kirche, dann noch einmal von halb drei bis halb vier und schließlich von sechs bis acht Uhr abends. Wenn keine Ferien sind, leitet sie die Sonntagsschule. Sehr religiös, aber ihre Kinder gehen nicht so gern zur Kirche.
    Mrs Rix möchte, dass ich manchmal mit ihr in die Kirche gehe, weil die meisten Leute, die für mich gespendet haben, sehr religiös sind.
    Außerdem habe ich Pingpong und Monopoly gespielt. Habt keine Angst, ich gehe nie zu spät ins Bett. Schade, dass ich meine eigenen Spiele nicht hier habe.
    Eine Million Küsse
    schickt Euch
    Eure Marion
    25. August 1939
    Vielen Dank für die Fotos. Wieso ist Papa auf keinem zu sehen? Hätte auch gern ein Foto von den Großeltern.
    Habe mich gut eingelebt und fühle mich wohl. Wie lieb von Euch, dass Ihr im Kreuzworträtsel alles wieder ausradiert habt, nachdem Ihr es gelöst hattet. Jetzt kann ich es erneut ausfüllen, aber ich weiß natürlich nicht so viel wie Ihr.
    Höre gern Radio.
    Sie bringen immer sehr hübsche Lieder.
    Mein Lieblingslied ist von Noel Coward: »I’ll see you again« – Ich werde dich wiedersehen.
    Es fängt an mit: »Ich werde dich wiedersehen, sobald es Frühling ist.«
    Schön, nicht wahr?
    Ihr seid nicht hier, aber ich sehe Euch immer vor mir.
    Ich liebe Euch von ganzem Herzen!
    Eure Marion
    Kurz nachdem ich diesen Brief geschrieben hatte, sollte ich erfahren, dass das Radio noch sehr viel wichtigere Dinge senden kann als Musik: Nachrichten, Informationen, Zeitgeschichte und vor allem tröstliche Worte, die einem Hoffnung geben konnten.

10
    KRIEG
    3. September 1939
    In England war es damals Brauch, um elf Uhr morgens ein zweites Frühstück einzunehmen – Tee und Kuchen oder Tee mit Keksen. Und weil das immer gegen elf Uhr war, hieß es passenderweise »Elevenses«.
    So saßen wir auch am 3. September 1939 bei unseren Elevenses. Im Hintergrund lief das Radio, als plötzlich ein Trommelwirbel erklang und der englische Premierminister, Neville Chamberlain (ebenfalls ein Politiker mit Schnauzbart, aber mir einer viel sanfteren Stimme als Hitler, das war mein erster Gedanke damals), eine Ansprache hielt.
    Er begann mit folgenden Worten: »An diesem Morgen um elf Uhr lief die 24-Stunden-Frist des Ultimatums ab, das England Deutschland gestellt hatte mit der Aufforderung, seine Truppen aus Polen abzuziehen. Bedauerlicherweise ließ Deutschland diese Frist verstreichen, und das bedeutet, dass wir uns ab sofort im Krieg mit Deutschland befinden.«
    Später an diesem Tag hat König Georg VI. im Rundfunk ebenfalls eine Ansprache gehalten, sehr stockend, um nicht ins Stottern zu kommen, und das machte es ziemlich anstrengend, ihm zuzuhören.
    Allerdings waren seine Worte unmissverständlich, und man merkte ihm an, wie schwer sie ihm fielen.
    Seine Radioansprache begann mit den folgenden Worten: »In dieser schweren Stunde, der möglicherweise schicksalsschwersten in der Geschichte, überbringe ich jedem Haushalt meines Volkes, sowohl daheim als auch in Übersee, eine Botschaft, und zwar so eindringlich, als würde ich über eure Schwelle treten und mich persönlich an jeden Einzelnen von euch wenden.
    Für die meisten von uns gilt, dass wir uns nun zum zweiten Mal im Kriegszustand

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