Ich war ein Glückskind - mein Weg aus Nazideutschland mit dem Kindertransport
1939
Mein herzallerliebster Papa, meine herzallerliebste Mama,
Papa, zuerst gratuliere ich Dir von ganzem Herzen zu Deinem Geburtstag. Ich wünsche Dir alles, alles Gute, vor allem Gesundheit, Glück und natürlich, dass wir nächstes Jahr um diese Zeit wieder alle zusammen sein werden. Und dass dann wieder Frieden herrscht.
Weißt Du was, Papilein? An Deinem Geburtstag werde ich eine zusätzliche Tasse Tee mit ganz viel Zucker trinken und mir dabei wünschen, dass all Deine Wünsche wahr werden.
Nächstes Jahr bekommst Du auch doppelt so viele Küss chen zum Geburtstag wie sonst. Dieses Jahr musst Du sie Dir vorstellen. Mama muss Dir einen ganz dicken Kuss von mir geben.
Jetzt, nach fast einem Monat, habe ich mich gut in der Schule eingelebt. Die Zeit vergeht wie im Fluge.
Alle drei Wochen lernen wir Kochen, Waschen und Bügeln, also Hausarbeiten. Morgen werden wir einen Rosinenkuchen backen.
Heute habe ich versucht, Kekse zu backen, aber sie sind natürlich nicht so gut geworden wie Deine, Mama. Aber es war eine schöne Abwechslung. Ich würde euch gern welche schicken, aber das geht leider nicht. In Nähen besticke ich eine Bluse.
Wir bekommen keine Hausaufgaben auf, aber ich finde trotzdem immer etwas, um mich zu beschäftigen. Ich lese Elizabeths Bücher, die recht interessant sind. Im Moment lese ich »Der kleine Lord«. Und davor habe ich »Doktor Doolittle und seine Tiere« gelesen. Ich habe alles verstanden.
Ich merke nicht einmal mehr, dass ich Englisch lese.
Jetzt, wo es so kalt ist, haben wir immer das Feuer an.
Ich hoffe, Dir und Mama geht es gut in Berlin und Ihr müsst nicht frieren. In Gedanken bin ich immer bei Euch.
Ich hoffe, Ihr könnt alles verstehen, was ich geschrieben habe, aber ich denke, ich mache schon noch den einen oder anderen Fehler.
Ich denke ganz fest an Dich, mein lieber Papa, und wünsche Dir einen wunderschönen Geburtstag
Deine Marion
Am 1. November 1939, dem Geburtstag meines Vaters, schrieb ich Folgendes:
Mein lieber, süßer, bester Papa, meine süße, liebe, knuddelige Mama,
vielen, vielen Dank für Euren lieben Brief, über den ich mich so sehr gefreut habe.
Ich hoffe, dieser Brief kommt gut bei Euch an und Ihr könnt alles verstehen.
Heute denke ich vor allem an Dich, mein liebster, bester Papa der Welt, denn heute ist Dein Geburtstag!
Ist mein Geburtstagsbrief rechtzeitig angekommen?
Ich hoffe so sehr, dass wir nächstes Jahr um diese Zeit wieder zusammen sind.
Heute lutsche ich mein letztes Geburtstagsbonbon, zur Feier Deines Geburtstages, Papa.
Ich habe mich in der Schule eingewöhnt und gehe sehr gern hin. Ich habe einen Kuchen gebacken und er hat allen geschmeckt.
Am 26. Oktober war unser Tag der offenen Schule. Viele Eltern und vornehme Gäste sind gekommen.
Die Schulleiterin hat gesagt, wenn man mich reden hört, denkt man gar nicht, dass ich Ausländerin bin.
Habt Ihr gutes Wetter? Hier ist es ziemlich kalt und letztes Wochenende hat es nur geregnet. Ich glaube, das Klavierspielen habe ich schon verlernt. Ich werde Mrs Rix fragen, ob ich mal auf ihrem Klavier spielen darf.
In letzter Zeit werde ich nicht mehr so viel eingeladen, weil mich die meisten Leute jetzt kennen und weil es so früh dunkel wird. Ich gehe spätestens um halb neun ins Bett und stehe um zwanzig nach sieben auf.
Bitte grüßt alle, die ich kenne, besonders Großmutter und Großvater, aber auch die anderen Verwandten.
Ich denke heute den ganzen Tag an Dich, Papilein.
Bestimmt sind alle Verwandten gekommen, um mit Dir zu feiern. Und Ihr denkt bestimmt auch an mich.
Ich wünsche mir so sehr, dass wir uns ganz, ganz, ganz bald wiedersehen. Wo, ist mir egal.
Es grüßt und herzt Euch
Eure Marion
Im Laufe der nächsten Monate trafen die Briefe aus Deutschland immer unregelmäßiger ein. Ich machte mir Sorgen, doch als ich Mrs Rix fragte, sagte sie nur: »Das hat bestimmt schon mit Weihnachten zu tun.«
In der zweiten Novemberwoche erhielt ich zu meiner großen Freude endlich wieder einen Brief von meinen Eltern. Das hier ist mein Antwortbrief:
Liebster, bester Papa der Welt und liebste, beste Mami der Welt,
tausend Dank für Euren lieben Brief, der mich so froh gemacht hat. Ich bin immer sehr glücklich, wenn ich Post von Euch erhalte. Hoffentlich kommt auch dieser Brief bald bei Euch an.
Ich habe dieser Tage viel zu tun, denn wenn ich von der Schule komme, mache ich immer gleich meine Hausaufgaben, damit ich Dinge lerne, die ich noch nicht kenne. Ich gehe sehr gern
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