Ich war ein Glückskind - mein Weg aus Nazideutschland mit dem Kindertransport
zur Schule und es macht mir großen Spaß.
Die Zeit vergeht so schnell, das glaubt Ihr gar nicht. Ich trinke Milch, das ist sehr gesund.
Ich bekomme auch Taschengeld, 3 Pence die Woche. Das ist sehr nett von Mrs Rix.
Manchmal spiele ich auch Pingpong. Spielt Ihr das auch manchmal?
Ich hoffe, Ihr bekommt nette Nachbarn. Jetzt ist es sicher sehr ruhig im Haus. Wollt Ihr Euch nicht einen Hund zulegen?
Ihr würdet staunen, wenn Ihr sehen würdet, wie gut ich mich mit den Hunden hier verstehe. Sie wollen mir immer das Gesicht lecken.
Erstaunlich, nicht wahr? Noch vor einem Jahr wäre ich vor Angst gestorben, wenn ein Hund im Zimmer gewesen wäre. Aber ich habe mich schnell an sie gewöhnt. Schade, dass ich Euch kein Foto von mir mit den beiden Hunden schicken kann.
Mrs Rix ist gerade hereingekommen und hat gesagt, dass heute Abend zwei Studenten zu Besuch kommen. Ich soll mein bestes Kleid anziehen. Weil ich so schnell wachse, sind mir die meisten Kleider zu kurz geworden. Ich hatte in den letzten Tagen nicht viel Zeit zum Klavierspielen, obwohl Mrs Rix es mir nun manchmal erlaubt.
Mrs Rix ist sehr musikalisch und kann sehr schön singen.
Wir backen schon Kuchen und Gebäck für Weihnachten. In England fangen sie schon einen Monat vorher damit an.
Oh, die zwei Studenten sind da, und ich muss aufhören. Wir wollen zusammen Pingpong spielen.
Liebe Grüße an alle Verwandten und Bekannten. Und viele Küsse und Grüße für Euch, liebe Eltern!
Eure Marion, die immer an Euch denkt
Als Weihnachten näher rückte und der Krieg weiterging, musste ich allmählich einsehen, dass meine Eltern in diesem Jahr nicht mehr nach England kommen würden, wie wir gehofft hatten.
Doch wir klammerten uns an die Hoffnung, dass der Krieg sehr bald vorbei sein würde und wir endlich wieder zusammen sein würden.
5. Dezember 1939
»Macht Euch keine Sorgen um mich. Die Zeit vergeht wie im Flug. Jetzt bin ich schon fünf Monate hier in England.
Das Haus ist wunderschön weihnachtlich dekoriert, und auf der Spitze des Weihnachtsbaums thront ein silberner Engel, den Mrs Rix schon als Kind hatte, wie sie sagt.
Im Moment spielt sie »Stille Nacht, Heilige Nacht« auf dem Klavier.
Dieses Jahr kann ich die Chanukka-Kerzen bei uns nicht anzünden, aber vielleicht nächstes Jahr? Dann feiern wir mit all unseren alten Freunden und Verwandten.
Aber wo wird das sein? In welchem Land werden wir uns wiedersehen? Ich wünschte, ich wüsste es schon. Aber das weiß niemand.
Ich weiß, dass es Euch interessiert, was man hier in En gland isst. Also: Zum Mittagessen gab es heute gekochte Zwiebeln in einer Milchsauce, Brot und Butter. Es schmeckt besser, als es klingt.
Manche Dinge hier sind aber recht sonderbar. Einmal gab es nur Sellerie mit Salz. Ein andermal einen heißen Teig namens »Pudding« mit Marmelade und Orangengelee mit Sahne. Es war wirklich sehr lecker.
Ich sitze gerade zum Schreiben im Wohnzimmer – einem sehr schönen Raum. Hier stehen ein Flügel, eine Vitrine und ein Radio. Es gibt eine Glastür, die zum Garten führt, einen weißen Teppich mit Blumen, drei Spiegel und fünf Vasen, die Mrs Rix selbst bemalt hat. An den Wänden hängen Fotos.
Ich weiß nicht, was ich sonst noch schreiben soll, denn eigentlich passiert nicht viel.
Im Kamin brennt ein Feuer. Ich glaube nicht, dass ich mich groß verändert habe, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben.
Ich habe mein hübsches blaues Seidenkleid an und zu hören ist nur das Knistern des Feuers und das Kratzen meiner Feder.
Weil es so kalt geworden ist, gehe ich jeden Abend mit einer Wärmflasche ins Bett. Ich hoffe, Ihr habt es auch schön warm und lasst es Euch gut gehen.
Eure Euch innig liebende Tochter
Marion
Meine Eltern haben in der Tat jedes Jahr im Dezember die Chanukka-Kerzen angezündet.
Doch als gute und aufrechte Deutsche hatten wir auch einen geschmückten Weihnachtsbaum und es gab immer viele Geschenke.
Mein erstes Weihnachten in England war jedoch ganz anders. Die einzigen Geschenke, die ich bekam, waren eine Schachtel Bonbons von Phyllis, was ich sehr lieb fand, und eine Kerze von Mrs Rix.
Sie bestand darauf, dass ich an Heiligabend mit ihr und den Kindern in die Christmette ging, und obwohl ich ein schlechtes Gewissen hatte, fand ich einige der Lieder sehr schön.
Aber noch schöner fand ich ein Lied, das in jener Zeit oft im Radio kam: »We’ll Meet Again« – Wir werden uns wiedersehen –, gesungen von Vera Lynn.
Besonders gut gefiel mir die
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