Ich war ein Glückskind - mein Weg aus Nazideutschland mit dem Kindertransport
noch mehr, bitte, lieber Gott, schickte ich ein stummes Stoßgebet zum Himmel.
Vorsichtig entzog ich Ronnie meine Hand.
»Ich denke, es ist Zeit, die Bandage zu wechseln, Corporal«, sagte ich und holte Verbandzeug.
Ich höre schrecklich wenig von Mama und Papa, und wenn ich mir vorstelle, was ihnen und meiner Familie und dem Land, das ich einst so geliebt habe, alles passieren könnte, bekomme ich große Angst.
Liebes Tagebuch,
heute ist der 18. Juni und ich habe entsetzliche Angst.
Die Franzosen schließen einen Waffenstillstand mit Deutschland, und das bedeutet, dass die Nazis noch größere Chancen haben, England zu überfallen.
Ich bin seit fast einem Jahr in diesem Land, in dem ich mich immer mehr zu Hause fühle.
Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, dass mein lieber Papa im Großen Krieg voller Überzeugung gegen England gekämpft hat.
Früher habe ich ihn manchmal sagen hören: »Unser alter Feind, die Briten«, und ich finde es sehr mutig und klug von ihm, dass er seine Vorurteile gegen England und die Engländer hinuntergeschluckt und mich hierher geschickt hat, damit ich in Sicherheit bin.
Ich hoffe nur, dass auch er und Mama in Sicherheit sind.
Ich habe so lange nichts mehr von ihnen gehört. Und ich habe keine Ahnung, ob sie meine letzten drei Briefe jemals erhalten haben.
Dass ich nichts mehr von ihnen höre, macht mich sehr traurig.
In den Nachrichten hört man weiterhin nur schlimme Sachen über den Krieg, aber heute hat der wunderbare Winston Churchill wieder einmal eine fantastische Rundfunkansprache gehalten, die ich nie vergessen werde.
Er endete mit folgenden Worten: »Für Frankreich ist die Schlacht vorbei. Doch für England fängt die Schlacht erst an. Von dieser Schlacht hängt das Überleben der christlichen Zivilisation ab. Von ihr hängt unser aller Leben ab und auch der Fortbestand unserer Institutionen und unseres britischen Empires.
Der ganze Zorn und die ganze Gewalt des Gegners werden sich sehr bald gegen uns richten. Hitler weiß, dass er unsere Insel besiegen muss, weil er sonst den Krieg verliert. Wenn wir uns gegen ihn behaupten können, wird ganz Europa frei sein und die ganze Welt kann breite, sonnenbeschienene Wege gehen.
Sollten wir jedoch versagen, wird die ganze Welt, einschließlich der Vereinigten Staaten von Amerika, einschließlich all dessen, was wir kannten und schätzten, im Abgrund eines neuen, düsteren Zeitalters versinken, der im Lichte einer irregeleiteten Wissenschaft noch düsterer und bedrohlicher und vielleicht noch langwieriger werden wird.
Lasst uns deshalb unsere Verpflichtungen übernehmen und uns so verhalten, dass, wenn das Britische Empire und sein Commonwealth noch tausend Jahre fortbestehen, die Menschen auch in Zukunft sagen werden: ›Das war Englands glorreichste Stunde.‹«
13
AUNTIE
Juli 1940
Als ich eines Morgens im Sommer 1940 nach Hause kam, saß Mrs Masterman (ihren Vornamen habe ich nie erfahren; Mary nannte sie »Mum« und ihr Mann nannte sie »Mother«, sehr britisch und sehr seltsam) tränenüberströmt in der Küche, weil ihre Mutter unerwartet an einem Herzinfarkt gestorben war.
Wenig später erhielt ich einen Brief vom Flüchtlingskomitee, in dem mir mitgeteilt wurde, dass ich nicht länger bei den Mastermans wohnen könne, da Mrs Mastermans Vater, ein Müllmann, aus gesundheitlichen Gründen zur Familie seiner Tochter ziehen würde und ich folglich ausziehen müsse.
Ich hatte genau drei Tage Zeit, um meine Sachen zu packen, und in dieser Zeit hat keiner der Familie – nicht einmal Mary, mit der ich weiterhin zur Schule und wieder nach Hause radelte – auch nur ein Sterbenswörtchen über mein Weggehen gesagt.
Aber inzwischen konnte mich nichts mehr überraschen, was die Engländer taten oder nicht taten.
18. August 1940
Meine liebsten Eltern,
ich hoffe so sehr, dass Ihr diesen Brief erhalten werdet. Und dass es Euch beiden gut geht und Ihr mit unseren Verwandten und Bekannten einen schönen Sommer erlebt.
Bei mir gibt es eine Neuigkeit: Ich bin wieder umgezogen, diesmal zu einer sehr netten Familie in Trumpington, einem sehr vornehmen Stadtteil von Cambridge, und ich fühle mich hier wie im Paradies.
Obwohl ich nun schon seit über einem Jahr in England lebe, staune ich immer wieder über die seltsame Starrheit der Engländer, wenn es um gesellschaftliche Klassen geht.
Meine neue Freundin – die erste hier in England – heißt Margaret, und wir gehen in dieselbe Klasse. Sie ist groß und blond
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