Ich war ein Glückskind - mein Weg aus Nazideutschland mit dem Kindertransport
und wunderschön, und sie sieht ein bisschen wie die amerikanische Schauspielerin Betty Grable aus, nur dass sie weder tanzt noch singt. Margaret hat mir erklärt, wie es sich mit den verschiedenen Klassen verhält und dass Mrs Rix als Pfarrerswitwe zur Mittelschicht gehört.
Die Mastermans, die sie kennt, weil sie mich einmal zum Tee besucht hat, als ich noch bei ihnen gewohnt habe, gehören zur Arbeiterklasse, weil Marys Großvater ein Müllmann ist, hat sie gesagt.
Und meine neue Familie, die Beards, gehören zur oberen Mittelschicht, weil Mr Beard Fabrikbesitzer ist.
Das bedeutet vermutlich, dass Papa auch zur oberen Mittelschicht gehören wird, wenn er nach England kommt, weil er ja auch eine Fabrik hat, beziehungsweise mal eine hatte.
Mrs Beard ist sehr dünn und nicht so hübsch wie Mrs Rix, aber dafür ist sie sehr nett und freundlich.
Mr Beard ist ein ruhiger, lieber Mann, und ihre drei Kinder, Iris (fast 13), Carole (14) und Douglas (18) gehen auf teure Privatschulen, so genannte public schools .
Das finde ich auch komisch: Die Engländer nennen ihre besten Schulen »public schools«, was eigentlich öffentlich heißt, und sie sind ziemlich teuer, weil es Privatschulen sind. Komisch, oder?
Aber zurück zu meiner neuen Pflegefamilie: Mrs Beard hat gesagt, ich solle sie »Auntie« nennen, also »Tantchen«, und sie hat dem Flüchtlingskomitee gesagt, sie würde kein Kostgeld für mich verlangen, weil sie mich wie eines ihrer eigenen Kinder behandeln will.
Natürlich werde ich nie ihr Kind sein, ich bin und bleibe Euer Kind, Mama und Papa, aber Mrs Beard hat es sicher nett gemeint.
Und ich denke, Ihr würdet Euch freuen, wenn Ihr sehen könntet, wie ich hier lebe.
Die Beards wohnen in einer hübschen Straße in einem sehr großen Haus mit zwei Stockwerken und einem wunderschönen Garten mit eigenem Tennisplatz.
Sie haben einen Hund namens Tassle, vier Hasen und viele Hühner, und Mrs Beard hat mir erzählt, dass die ganze Familie jeden Samstag ins Theater oder ins Kino geht.
Und ich darf ab jetzt mitkommen und darauf freue ich mich sehr.
Also, liebe Eltern, ich weiß, dass Ihr Euch freut zu hören, dass ich endlich eine englische Familie gefunden habe, in der ich mich wohl fühle. Und das wird hoffentlich so bleiben bis zu dem Tag, auf den ich mich am allermeisten freue: der Tag, an dem wir drei endlich wieder zusammen sein werden.
Eure Euch liebende Tochter
Marion
Meine Eltern haben mich dazu erzogen, immer die Wahrheit zu sagen, egal unter welchen Umständen.
Meine Mutter hat sogar gesagt: »Wer lügt, stiehlt auch.«
Aber inzwischen war ich eine wahre Meisterin darin geworden, mir schöne, unwahre Märchen über mein Leben in England auszudenken, damit meine Eltern sich ja keine Sorgen machten.
Mir war bewusst, dass ich schwindelte, aber ich hatte kein schlechtes Gewissen deshalb. Wo immer meine Eltern auch waren und wie immer es ihnen auch ging – ich wollte auf gar keinen Fall, dass sie sich Sorgen um mich machten oder die Wahrheit über mein neues Leben und die jeweiligen Lebensumstände erfuhren.
Liebes Tagebuch,
ich habe hier in England schon viele sonderbare Menschen getroffen, aber Mrs Beard ist mit Abstand der sonderbarste und wunderlichste von allen.
Da wäre zuerst ihr Aussehen. Sie sieht aus wie ein langer, dünner Fisch mit großen, kalten, fischähnlichen Glotzaugen und einem kalten Fischlächeln. Alles an ihr ist kalt und grau; grau sind auch ihre Haare, die sie lang und offen trägt – was sie wie eine Hexe aussehen lässt, wie ich finde.
Sie ist mit den »Mädchen« (so nennt sie Iris und Carole – sie nennt nie ihre Namen) und mir ins Kino gegangen, und wir haben uns einen Film namens »Rebecca« angesehen. In dem Film kam eine verrückte Haushälterin vor, Mrs Danvers, die mich irgendwie an Mrs Beard erinnert hat. Bei ihr kann man sich auch gut vorstellen, dass sie vor Wut ein Haus in Brand steckt.
Ich war richtig schockiert, als sie mich gleich am ersten Tag in das sogenannte Frühstückszimmer führte, einen kleinen Stahltresor in der Ecke öffnete und eine grüne Flasche herausholte, in der sich eine gelbliche Flüssigkeit befand.
»Sieh es dir genau an, Marion Czarlinski. Das ist reines Gift. Sollten die Deutschen jemals einen Fuß auf britischen Boden setzen, werdet du und meine Mädchen die ganze Flasche austrinken, bis zum letzten Tropfen«, erklärte sie resolut.
Und dabei hat sie die Augen zusammengekniffen und sah plötzlich nicht mehr wie ein Fisch,
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