Ich war Hitlerjunge Salomon
einigen gefangenen Offizieren dolmetschen. In dem
riesigen Lager drängten sich die von bewaffneten Soldaten
bewachten Männer zu Tausenden. Sie waren kahlgeschoren
und saßen im Schneidersitz ohne Wasser und Nahrung in
der sengenden Sonne.
Als ich eintrat, fiel mir sogleich ein Verletzter auf, der am
Boden lag und nur mit einem russischen Militärrock bekleidet
war. Der ganze Unterleib war nackt, anstelle des Geschlechts
klaffte eine tiefe Wunde. Er stöhnte und flehte um Wasser.
Ich dachte an den russischen Soldaten, der mich vor dem
Ertrinken gerettet hatte. Aber ich hatte weder die Mittel noch
die Möglichkeit, ihm zu helfen. Ich flüsterte ihm ein paar
tröstende Worte zu und folgte schweren Herzens den zwei
deutschen Offizieren.
Wir erreichten die von hohen Bäumen umzäunte Baracke
der gefangenen Offiziere. Im Gegensatz zu den unzähligen
einfachen Soldaten wurden die Offiziere bevorzugt behan-
delt und sahen noch menschlich aus. Man befahl mir, ihnen
das Reglement zu übersetzen, das auch Bestimmungen zur
Aufrechterhaltung der Ordnung und die Strafen im Falle der
Zuwiderhandlung enthielt.
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Meine Dolmetschertätigkeit war nicht besonders schwierig,
und ich staunte, wie schnell ich mich in meiner neuen Funk-
tion zurechtfand. Bei jeder Begegnung mit meinen natürlichen
Verbündeten, den russischen Gefangenen, mußte ich meinen
Schmerz über ihre Niederlage und Demütigung unterdrük-
ken. Allmählich trug mir mein tadelloses Verhalten bei den
Verhören und Ermittlungen das Vertrauen und den Respekt
meiner »Kameraden« ein. Sie fanden mich komisch in meiner
zu großen Uniform und den riesigen Stiefeln, die mir das
Aussehen eines gestiefelten Katers verliehen. Ich galt als der
»jüngste Soldat der Wehrmacht«, was die Sympathie erhöhte,
die ich genoß. Ständig stopften sie mich mit Süßigkeiten
voll, fragten mich nach meinem Befinden und sorgten dafür,
daß mir tags nicht zu heiß und nachts nicht zu kalt war. Sie
begannen, mich ihren »Kumpel« zu nennen. Ich wurde für
sie das Maskottchen ihrer Einheit, und sie teilten zuerst mit
mir die Pakete, die sie von ihren Eltern erhielten.
Meine potentiel en Mörder, die Feinde meiner Familie und
meines Volkes, sahen in mir den Talisman für ihre Unversehrt-
heit und ihren Sieg, während ich innerlich darum betete, sie
mögen rasch sterben und den Krieg verlieren. Welch bittere
Ironie des Schicksals!
»Vorwärts, nach Osten!« hieß es bei jedem Schritt, und so
rückten wir jeden Tag mehrere Kilometer vor, bis der Stadt-
gürtel von Smolensk in Reichweite lag.
In der Einheit herrschte allgemein eiserne Disziplin. Be-
sonders gefürchtet war Hauptfeldwebel Haas. Hauptmann
von Münchow trat selten in Erscheinung. Bei jedem Stel-
lungswechsel wurde ein mit Wein- und Champagnerflaschen
vol beladener Wagen mitgeführt. In diesem Wagen verbrachte
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er den Großteil seiner freien Zeit in Gesellschaft von Offizie-
ren der Nachbareinheiten. War ich zufällig allein in seinem
Bunker, nutzte ich öfter die Gelegenheit, von seinem Schreib-
tisch eine Zigarette zu stibitzen. Und die rauchte ich dann
mit Vergnügen!
Folgende Geschichte gibt ein Bild von der strengen Diszi-
plin: Die Einheit rückte in unabhängiger Formation vor. Sie
bestand aus einigen Dutzend Fahrzeugen, an deren Spitze
sich der Wagen des Hauptmanns befand. Von Zeit zu Zeit
fuhren der Offizier vom Dienst oder der Feldwebel mit ihren
Motorrädern den Konvoi ab, um zu kontrollieren, ob alle
Mann ihre Ausrüstung komplett dabeihatten, die Hände an
der Waffe lagen und der Helm korrekt saß. Unsere Kampf-
anzüge mußten bis zum letzten Knopf geschlossen sein. Nur
in den heißen Nachmittagsstunden, wenn die Sonne stach,
geruhte Herr Hauptmann sich unserer zu erinnern und gab
den Befehl: »Obersten Knopf öffnen!« Die Weisung ging von
Fahrzeug zu Fahrzeug. Ich saß hinten auf dem zweiten Wagen
und durfte die erfreuliche Meldung weiter durchgeben. Lange
Minuten verfolgte ich, was im Rest des Konvois geschah. Wie
in einem Trickfilm drehte sich ein Kopf nach dem anderen,
um die Anordnung weiterzusagen, und hob sich eine Hand
nach der anderen zum obersten Knopf.
Während meines Aufenthalts in dieser Einheit entwickelte
sich eine freundschaftliche Beziehung zwischen mir und dem
Sanitätsoffizier Heinz Kelzenberg. Mein ständiger Platz im
Konvoi war in seinem Wagen. Wir nahmen unsere Mahlzeiten
gemeinsam ein, und rasteten wir am
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