Ich war Hitlerjunge Salomon
Straßenrand, erzähl-
te er mir von seiner Familie, seiner Heimatstadt Köln und
Deutschland im allgemeinen. Er brachte mir ein paar kölsche
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Volkslieder bei, und ich schloß mich ihm eng an. Er war groß,
hatte ein feines Gesicht und helles, sorgfältig gekämmtes, in
der Mitte gescheiteltes Haar. Er gab mir als erster den netten
Spitznamen »Jupp«, den die anderen rasch übernahmen. Bald
nannte mich keiner mehr Josef, sondern ich war Jupp, der
kleine Dolmetscher.
Wir rückten rasch vor, besonders am Tage. Bei Einbruch
der Nacht machte unsere Einheit auf einem günstigen Gelände
Quartier, und wir legten die Wachablösungen fest. Die ande-
ren trafen die Vorbereitungen für die Nacht. Der schlechten
hygienischen Bedingungen wegen kam eine Unterbringung
bei der Bevölkerung nicht in Frage. Wir zogen die Strohbal en
in den Scheunen vor, aus denen wir unsere Betten bauten.
Eines Nachts, ich schlief tief auf meinem Strohlager, fühlte
ich, wie mir eine Hand über den Unterleib strich. Ich riß die
Augen auf und sah Heinz’ vertrautes Gesicht neben mir. Ich
war verblüfft über diese sonderbare Berührung. Ich schob
mich schnell zur Seite, während er versuchte, mir näher zu
kommen und dabei flüsterte: »Sei still, Jupp, ich will nur ein
bißchen mit dir spielen.« Ich verstand nicht, was für ein Spiel
er meinte, doch widersetzte sich meine natürliche Naivität
diesem unbekannten Zeitvertreib. Ich packte meine Decke
und verzog mich in eine andere Ecke.
Am folgenden Tag taten wir beide so, als wäre nachts
nichts geschehen, und verhielten uns wie immer. Es verstand
sich von selbst, daß ich mir nicht erlauben konnte, einen von
ihnen zu verärgern. Mit jemandem einen Streit vom Zaun zu
brechen, wäre Wahnsinn gewesen!
Eines Tages gingen wir in einem großen Schulgebäude
in Stellung. An den Wänden hingen noch kommunistische
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Parolen und Farbphotos von Stalin mit seiner geliebten Toch-
ter Swetlana auf dem Arm. Auf ihrer weißen Bluse flatterte
lustig ihre rote Krawatte, und das ganze breit lächelnde Ge-
sicht strahlte Stolz und Glück aus. Sie salutierte nach Art der
Pioniere: »Stets bereit!«
Ich erinnerte mich, wie mein Vater mich einst auf den
Arm genommen und sich mit mir im Kreise gedreht hatte.
Ich hörte vergangenes Gelächter aufbranden. Nun war ich
ein verlassenes Kind, umgeben von Handlangern des Teufels.
Ich blieb allein in einem der Klassenzimmer. Das Heim-
weh übermannte mich, trotzdem schlief ich irgendwann ein.
Plötzlich spürte ich einen feuchten Lappen auf dem Gesicht.
Der scharfe Geruch von Äther stach mir in die Nase. Heftig
stieß ich den Lappen weg, bevor mich der Äther bewußtlos
machte. Ich stand mit einem Satz auf den Beinen und sah
Heinz vor mir, der murmelte: »So schlimm ist das doch gar
nicht …«
Mittlerweile hatte ich gezwungenerweise gelernt, mich in
meiner neuen Identität wie in einer zweiten Haut zu bewegen.
Schreck und Heimweh ließen nach und quälten mich weniger.
Der starke Überlebenswille überlagerte alles und machte den
Rest zweitrangig.
Wir blieben ein paar Tage bei Smolensk. Und hier hatte
ich Gelegenheit, an einem aufregenden historischen Ereignis
mitzuwirken. Ich wurde in das Hauptlager der Kompanie
gerufen, um das Verhör eines hohen russischen Offiziers zu
dolmetschen, der soeben gefangengenommen worden war. Sol-
che Begegnungen erfül ten mich mit heimlicher Freude, da all
meine Sympathie und mein Mitgefühl den Gefangenen galt.
Ich konnte ein wenig den inneren Aufruhr beschwichtigen,
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indem ich verstohlen eine Freundschaft pflegte oder den Ge-
fangenen etwas Nahrung zusteckte. Dies war mein armseliger
Beitrag zum gemeinsamen Kampf, der darin bestand, unter
solchen Bedingungen durchzuhalten. Meine neue Identität
hatte mein Bewußtsein noch nicht deformiert. Meine neue
Persönlichkeit begann sich eben erst herauszubilden.
Ein Motorrad holte mich ab. Nach einigen Kilometern
erreichten wir die Stelle, wo die russischen Offiziere festge-
halten wurden. Es war ein strohgedecktes Häuschen, dessen
Bewohner geflüchtet waren. Auf den Gesichtern der dort ein-
gesperrten unteren Chargen und einfachen Soldaten malten
sich die der Gefangennahme vorausgegangenen Schrecken ab.
Ich spürte ihre Angst und ihre Sorge um die unmittelbare
Zukunft. Die Wachposten zeigten auf einen Chargierten, und
die deutschen Offiziere – mit Oberleutnant Henmann von der
2. Kompanie der
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