Ich war Hitlerjunge Salomon
ein. Ich betrachtete mich im Rückspiegel
eines abgestellten Fahrzeugs.
Auf meiner Brust sah ich das Abzeichen mit dem preußi-
schen Adler, der das Hakenkreuz in seinen Raubvogelkrallen
hielt. Man bat mich, die Mütze mit den schwarz-weiß-roten
Streifen aufzuprobieren. Das ernüchterte mich vollends. Ich
fand mich erschreckend. Rings um mich, den kleinen Salomon,
war ein blutrünstiger Krieg im Gange – und ich steckte in
einer Nazi-Uniform! Es überrieselte mich eiskalt von Kopf bis
Fuß. Die Situation überforderte mich völlig, und ich wußte
nicht, wie ich mich verhalten sollte. Ich hatte Angst vor mir
selbst und vor den anderen, die mich umgaben. Wen von
beiden ich mehr fürchtete, ist nicht sicher. Ich, das jüdische
Kind, hielt mich beim grausamsten Feind auf, und ich mußte
all meine Kräfte aufbieten, um die Nerven zu behalten und
zu verhindern, daß die gefährliche Wahrheit ans Licht kam.
Mit Todesangst im Herzen und schreckensbleichem Ge-
sicht war ich vor ihnen geflohen, seit ich denken kann. Und
jetzt befand ich mich in ihrem Lager, trug ihre Uniform
und gab vor, an einem sicheren Ort und in meiner Heimat
angelangt zu sein. Der Spiegel warf mir das Bild der Uniform
auf meinem abgemagerten Leib zurück, der Uniform, vor der
ich aus Peine, aus Lodz, aus dem Waisenhaus geflohen war.
Vielleicht war dies auch nur ein böser Traum, aus dem ich
sogleich erwachen würde. Aber ich öffnete die Augen und
erkannte, daß dies die neue Wirklichkeit war. Ich weigerte
mich zu glauben, was meine Augen sahen. Die aberwitzigsten
Wahnvorstellungen hätten sich eine derartige Umkehrung der
Situation nicht ausdenken können. Was ich empfand, hätte nur
ein in die Höhle des Löwen geworfenes Schaf nachempfinden
40
können. Nach langen Minuten hatte ich den Schock des jähen
Wechsels überwunden.
Jetzt dachte ich fieberhaft an die Antworten, die ich zu
geben, und das Verhalten, das ich an den Tag zu legen hatte.
Ich war noch in Gedanken, als man mich aufforderte, vor den
Feldwebel zu treten. Er saß in einem blauen Volkswagen, der
der Kompanie als fahrende Schreibstube diente. Neben dem
Lenkrad war ein Brett mit einer Schreibmaschine befestigt,
den Wagenfond fül ten Regale mit Verwaltungsakten aus. Die
germanische Ordnung.
Ich näherte mich ihm. Als ich mich auf gleicher Höhe mit
ihm befand, ergriff er sogleich einen Stift und sagte: »Deine
Papiere bitte!«
Meine Zunge war wie gelähmt, und ich konnte kaum
hinunterschlucken, was mir ein paar Sekunden Bedenkzeit
verschaffte. Sagte ich die Wahrheit, gestand ich, meine Papie-
re in der Erde vergraben zu haben, war mir der Tod gewiß.
Ich wußte, daß ich eine plausible Geschichte erfinden mußte.
Nun aber hatte man mich bisher nicht gelehrt, auf Anhieb
prompt und glaubhaft zu lügen. Das haben die Umstände
und die Nazis zuwege gebracht. Schnell ließ ich mich von
den überlebensnotwendigen Hirngespinsten mitreißen.
Die Lüge kam binnen Sekunden: »Herr Feldwebel, al meine
Ausweispapiere wurden durch den massiven deutschen Ar-
tilleriebeschuß des eingekesselten Gebiets, in dem ich mich
aufhielt, vernichtet«, antwortete ich selbstbewußt und ohne
den geringsten Zweifel an der Glaubwürdigkeit meiner Wor-
te aufkommen zu lassen. »Ach, du armer Kerl!« sagte der
Deutsche und lächelt mir verständnisvoll zu. Er nahm ein
leeres Blatt Papier und fragte: »Wie heißt du?« Unwillkürlich
41
nannte ich meinen richtigen Namen: Perel, und sofort schrillte
eine Alarmglocke in meinem Gehirn, Salomon, was hast du
gemacht? Du hast mit deinen eigenen Worten deine einzige
Überlebenschance zerstört! Perel ist ein ausgesprochen jüdi-
scher Name.
Offenbar war ich noch nicht geübt genug; ich hatte nicht
ganz begriffen, worum es ging, auch nicht, daß fortan jede
Minute meines Lebens von der Verschleierung der Wahrheit
und den spontan erfundenen Notlügen abhängen würde, ohne
die ein Überleben unmöglich war und die meine einzigen
Waffen darstellten.
Zum Glück konnte er meine Antwort wegen des Bomben-
lärms der Stukas und der brummenden Motoren der uns in
Wellen überfliegenden Doppeldecker nicht recht verstehen,
und so fragte er nach: »Wie? Wie?« Man gewährte mir also
noch eine Galgenfrist. Mir war klar, daß ich einen anderen
Namen finden mußte, der aber nicht völlig anders klingen
durfte – wie etwa Stuttwaffer oder Müller –, und ich erwi-
derte: »Ich heiße Perjell.«
Ich hatte
Weitere Kostenlose Bücher